Die Lust des Bösen
dunkel.
Als der hünenhafte Wenger wieder zu sich kam, brauchte er einige Minuten, um sich zu beruhigen und zu orientieren. Wie ferngesteuert nahm er sein kleines ledernes Notizbuch aus seiner Tasche, leuchtete mit seiner Taschenlampe und holte die Fotos seiner Opfer hervor.
Ja, sie alle waren für den Endsieg gestorben, er allein hatte bis zum letzten Atemzug gekämpft, genau so, wie es der Führer in seiner Radioansprache gefordert hatte: Jeder, der kämpfen konnte, sollte kämpfen, um damit die Zukunft des Lebens sicherzustellen, hatte er damals gefordert. Würde die Nachwelt wohl verstehen, was ihn dazu bewogen hatte?
Unvermittelt fand sich Wenger in dem dunklen Keller wieder, in den ihn sein Onkel eingesperrt hatte, wenn er nicht das tat, was er von ihm verlangte. Stundenlang musste er dann in der feuchten Kühle zwischen den Kohlen verharren, ohne Essen, ohne Wasser und ohne Licht. Alleine – nur er und diese verdammte, verhasste Bibel.
»Lies«, hatte der Onkel ihm stets befohlen, »und bereue deine Sünden! Los! Lauter! Ich kann dich nicht hören!«
Er durfte nicht aufhören, auch wenn sich die Kellertür schon lange geschlossen hatte. Weiter, immer weiter voran kämpfte er sich durch die Bibelverse, bis ihm die Stimme versagte. So lange, bis sich endlich die Tür öffnete und der Onkel ihn fragte: »Na, wirst du nun ein braver Junge sein?«
Wie oft hatte ihn sein Onkel missbraucht, wie oft hatte Wenger geweint – und niemand hatte ihn gehört. Irgendwann wurde er stumm. Er lernte, die Demütigungen, den Missbrauch und all den Frust in sich hineinzufressen. Lernte, dass niemand seine Tränen wahrnahm und dass es niemanden interessierte, was er empfand. Er musste funktionieren wie eine Maschine – emotionslos, kalt und berechenbar das Programm abspulen, das man von ihm verlangte, sonst nichts. Noch heute fröstelte es ihn, wenn er an den Onkel dachte, an dessen widerlichen Schweißgeruch und seine ekeligen feuchten Hände.
Vielleicht war er wie das Kamel in der Fabel, die ihm seine Mutter als Kind so oft vorgelesen hatte. Das Tier, das ungeliebt war und verachtet wurde, weil es sich so leicht bändigen ließ.
Als die Beduinen den großen, majestätischen Vierbeiner zum ersten Mal erblickten, waren sie erstaunt über seine Größe, und vielleicht hatten sie auch ein wenig Angst und wollten davonlaufen. Aber bald darauf verloren sie die Angst vor dem Kamel. Sie bemerkten, dass es nicht so furchtbar war, wie sie erwartet hatten. Das Kamel ließ alles mit sich geschehen. Sobald sie die Furcht vor diesem Tier verloren hatten, weil es sich trotz seiner Größe und Stärke nie widerspenstig zeigte, begannen sie es zu verachten und sogar zu quälen. So wie dieses Kamel hatte er sich oft in seiner Kindheit gefühlt.
Zunächst hatten die anderen Kinder einen Heidenrespekt vor ihm, vor seiner Größe und seiner Erscheinung gehabt. Aber dann, als sie gemerkt hatten, dass sie von ihm nichts zu befürchten hatten, sondern dass er ein geborenes Opfer war, hatten sie angefangen, ihn zu hänseln. Er war schwach, und das nutzten die anderen aus. Auch in der Schule war es weitergegangen, als wäre er ein Magnet für Terror gewesen. Es gab Typen, die suchten nach Schwächeren und tyrannisierten sie.
Auch wenn da noch viele andere waren – garantiert wurde immer er ausgewählt. Ob die katholische Schule oder später die Armee, es war immer dasselbe: Er konnte sich nicht wehren. Nicht, weil er körperlich zu schwach, sondern weil er ihnen mental nicht gewachsen und nicht abgebrüht genug war.
Wenger lächelte – nein, es war mehr ein diabolisches, abgründiges Grinsen. Er ballte die Faust, ja, er hatte es ihnen gezeigt, hatte sich gerächt für all die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war. Nicht wie damals, als er schwach gewesen war und sich dafür schämte, von seinem Onkel sexuell missbraucht worden zu sein.
Dafür hasste er heute seinen Vater, denn der war der Grund für all das gewesen. Immer dann, wenn sein widerlicher, cho lerischer Erzeuger seine Mutter geschlagen hatte, schickte er Wenger zu seinem Verwandten, weil er nicht mitbekommen sollte, wie sehr seine geliebte Mutter litt.
Noch gut erinnerte er sich an den Sommer, den er bei seiner Tante väterlicherseits verbracht hatte. An ihr altes Holzhäuschen, das immer ein wenig nach Stroh und Sommer roch, und an jenen Abend, als er ihr gesagt hatte, dass er nicht mit seinem Onkel in einem Zimmer schlafen wollte. Aber sie hatte ihn nur ausgelacht.
Ja,
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