Die Lust des Bösen
hinabzugleiten und nicht abzurutschen. Es war nicht genug Platz, um die Taschenlampe zu benutzen. Mit seinen Puma-Turnschuhen suchte er Halt auf der glitschigen Treppenstiege und tastete sich langsam vorwärts. Immer wieder rutschte er ab und musste es erneut versuchen. Seine Jeans streifte an den engen, nassen Wänden des Kanals entlang, und mit jeder Stufe, die er tiefer hinabstieg und die Temperatur merklich absank, klopfte sein Herz vor Aufregung wilder. Wie damals fühlte er sich, als er noch ein kleiner Junge gewesen war und gemeinsam mit anderen Kindern der Lehrerin einen Streich hatte spielen wollen: voller nervöser Vorfreude.
Nach etwa zehn Metern endete die Treppenstiege, und er setzte beide Füße auf den glitschigen Boden des Kanals. Jetzt brauchte er seine Taschenlampe, denn hier unten war es wirklich stockdunkel. Er schaltete sie ein, holte seinen Plan aus dem Rucksack, faltete ihn auseinander und schaute einige Minuten auf das verblichene Stück Papier. Er überlegte. Ein Stück musste er jetzt noch gehen. Es wäre wohl am besten, wenn er sich rechts hielte. Wenger wandte sich in diese Richtung und lief den Kanal entlang. Das Abwasser hier unten stank wirklich bestialisch. Ein beißender, aber auch süßlicher, leicht modriger Geruch, der ihn unvermittelt an seine Zeit in der Pathologie erinnerte. Aber Sentimentalitäten waren jetzt nicht gefragt.
»Konzentration, Wenger!«, ermahnte er sich selbst.
Er lief, nein, watete weiter durch das undefinierbare Gemisch, in dem seine Füße einsanken, bis er auf den in seinem Plan eingezeichneten stillgelegten U-Bahn-Schacht traf.
Meine Güte: Hier unten war ja wirklich die Zeit stehengeblieben. Er wandte seinen Blick nach oben und sah an der Wand unterhalb der Decke die alte Bahnhofsuhr, die noch immer zwanzig Uhr sechsunddreißig anzeigte. Vermutlich war dies genau die Zeit gewesen, in der eine Bombe in unmittelbarer Nachbarschaft eingeschlagen war. Na, kein Wunder, hier unten war ja auch niemand, der nach der Uhr sah. Und schon gar niemand, der nach dem Fahrplan schaute und wissen wollte, wann die nächste U-Bahn kam.
Er musste grinsen bei dieser Vorstellung. Achtzehn Geisterbahnhöfe und blinde Tunnel, die noch immer im Berliner Erdreich im Dornröschenschlaf aus Beton lagen, hatte er mithilfe seiner Lageskizze festgestellt. Mittlerweile waren viele der alten Decken und Wände eingestürzt, und Gänge endeten im Nichts. Er musste unbedingt darauf achten, dass er nicht in eine dieser Sackgassen geriet, denn dann konnte die Expedition Stunden dauern. Über die stillgelegten Gleise setzte er ein Stück weit seinen Weg fort, vorbei an einer maroden Tür, auf der in verblichenen Buchstaben »Notausgang« zu lesen war.
Im Laufe der Jahre hatten sich an den Stahlträgern winzige Tropfsteine gebildet, und in einigen Durchgängen stand Wasser, das von Rost leuchtend rot gefärbt war. Hinter den feuchten Wänden hörte er eine U-Bahn vorbeirauschen.
Immer dann, wenn er seine Taschenlampe für einen Moment ausschaltete, um Batterie zu sparen, leuchtete der Phosphor an den Wänden und wies ihm den Weg.
So, noch etwa hundert Meter, und dann musste der Übergang vom U-Bahn-System zum Tunnel kommen. Plötzlich sah er den Durchgang, rechts neben den Gleisen musste er sich befinden – hinter dieser alten Stahltür, auf der keine Beschriftung mehr zu erkennen war. Er öffnete sie und fand sich in einem weiteren tunnelartigen Gang wieder, der ihn hoffentlich zum Bunker führen würde. Der Weg wurde beschwerlicher. Hier hatte sich einiges an Schutt und Geröll aufgetürmt, und die Decken sahen auch nicht mehr wirklich stabil aus. An einigen Stellen hatte unübersehbar der Zahn der Zeit genagt. Die Stahlarmierung war durchgerostet und hatte die den Stahl schützende Betondeckung abgesprengt.
Je näher er seinem Ziel kam, umso ruhiger und entschlossener wurde er. Ja, hier unten fühlte er sich wohl und sicher, hier würde er ungestört seiner Leidenschaft frönen können. Es war eine andere Welt – eine, die im Dunklen lag. Fernab der Welt dort oben, die er so sehr hasste.
Noch bevor er seiner Fantasie weiter freien Lauf lassen konnte, tauchte nach etwa fünfhundert Metern linker Hand eine weitere riesige Stahltür auf. Darüber war eine zweizeilige Inschrift lesbar: »Mannsbilder gibt es genug. Richtige Kerle wenig.«
Sein Herz klopfte, und sein Adrenalinspiegel schoss in die Höhe. Jetzt war alles möglich! Er drückte die Klinke der Bunkertür herunter. Diese
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