Die Lust des Bösen
heraufbeschworen hatte: Soldaten in englischen Uniformen, die von deutschen Kampfflugzeugen angegriffen wurden. Etwas weiter rechts im Bild stürmten deutsche Soldaten im Schutz eines Panzers eine steile Gebirgsstraße hinauf.
Wenger war überwältigt: Unglaublich, was die Nazis hier alles erschaffen hatten. Und dieser Zeus hatte etwas von der Wut und der Zerstörungskraft, die Hitler entfalten konnte, wenn er es denn wollte. Vermutlich hatte der Maler mit diesem Bild die Eroberung des Klidi-Passes in Nordgriechenland durch Angehörige der Leibstandarte gemeint. Wie gerne wäre er dabei gewesen, als die erste SS-Panzerdivision auf griechisches Staatsgebiet vorgestoßen war, zwei Tage später den Pass passiert und schließlich die Städte Ptolemaida und Kozani erobert hatte. Das musste ein großartiges Gefühl gewesen sein.
Bevor er sentimental werden konnte, wandte er sich abrupt in nördliche Richtung um und sah dort zwei weitere M alereien – eine größere und eine etwas kleinere. Das größere Bild zeigte ein SS-Kommando, das auf einem Hof angetreten war, der aussah wie ein Klosterhof: ein in sich geschlossenes, steinernes Gebäude mit vielen sakralen Säulen.
Er blickte weiter hinauf und sah Rauch, Feuer und einen SS-Runenblitz, die aus dem Kopf eines Offiziers in Richtung Mannschaft schossen. Neben ihm stand ein weiterer Offizier, der auf eine Uhr deutete, die fünf nach acht anzeigte.
Was diese Uhrzeit bedeuten sollte, erschloss sich Wenger nicht. Aber vielleicht mahnte der Offizier ja auch nur zur Eile und wollte sagen: »Auf, auf, Kameraden, wir müssen uns beeilen, es ist schon fünf nach acht. Und wir hätten unsere Mission schon vor fünf Minuten erledigt haben sollen: Vorwärts, marsch!«
Auf einer Esche hinter den beiden Offizieren hatten sich Odins Raben Hugin und Munin niedergelassen, die das ganze Geschehen von einem sicheren Plätzchen aus beobachteten. Der in der südgermanischen Mythologie überaus weise Odin verdankte sein Wissen allein seinen Raben, die ihm alles erzählten, was auf der Welt geschah – weshalb er auch der Rabengott genannt wurde.
Vielleicht, überlegte Wenger, war dies eine Referenz des Malers an die Allmacht- und Allwissensfantasien des Führers, der stets danach trachtete, über alles, was auf der Welt geschah, informiert zu werden – ja, mehr noch, der alles beeinflussen wollte.
Halb hinter den Bäumen versteckt, beobachteten Nonnen die groteske Szenerie. Warum ausgerechnet Klosterschwestern hier Zuschauer waren, verstand er nicht. Aber vielleicht passten sie einfach hierher auf diesen Klosterhof. Offensichtlich hatte es der Maler auf mythische und religiöse Dinge abgesehen. Möglicherweise wollte er auch nur auf den himmlischen Beistand hinweisen, den das NS-Regime seiner Meinung nach hatte.
Wenger war ratlos. Aber so wichtig, dass er sich den Kopf zerbrach, war es für ihn auch nicht.
Auf dem kleineren Bild, das sich deutlich von dem eben beschriebenen unterschied, sah er einen Kommandeur der Leibstandarte, mit nacktem Oberkörper dargestellt als Sportlehrer für Wurfdisziplinen, und um ihn drei Hünen in kurzen Turnhosen, die ihn um Haupteslänge überragten. Es waren ein Diskus-, ein Speer- und ein Hammerwerfer. Gut erinnerte sich Wenger an eine Dokumentation, die er kürzlich über die Olympischen Sommerspiele 1936 gesehen hatte. Wenn er sich recht entsann, waren es genau diese Disziplinen, in denen die Deutschen gut gewesen waren oder gar Gold geholt hatten.
Genau, war es nicht der deutsche Karl Hein gewesen, der im Hammerwerfen die Goldmedaille erhalten hatte? Und im Diskus- und Speerwerfen hatten zwei Frauen gewonnen? Gerade deshalb hatte wohl der Maler den Diskus-, den Speer- und den Hammerwerfer ausgesucht. Wenger betrachtete das Bild weiter und sah zwei junge Frauen, die dem Ganzen in gebührendem Abstand bewundernd zusahen. Die Tribüne mit dem Hakenkreuzadler im Hintergrund konnte eigentlich nur eine Anspielung auf das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg sein, oder war einfach nur die Tribüne im Berliner Olympiastadion gemeint?
Weiter ging seine Exkursion in einen der nächsten Räume. Immer wieder leuchtete er mit seiner Lampe den Boden entlang, denn es lag alles Mögliche dort unten herum, und man konnte leicht stolpern. Dann fiel der Lichtstrahl auf einen Gegenstand, den Wenger nicht genau erkennen konnte.
Als er näher heranging, sah er eine kleine, blecherne Büchse, die schon leicht angerostet und etwas größer war als ein Pillendöschen
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