Die Lust des Bösen
– vermutlich ein alter Cremebehälter.
Er drehte und wendete die Dose und suchte nach einem Hinweis, wem sie wohl gehört haben mochte, fand aber nichts. Sie war schlicht, vermutlich einst mit Farbe überzogen gewesen, die aber komplett abgeblättert war. Keine Verzierungen, keinen Schriftzug konnte er mehr erkennen. Er wollte sie öffnen, aber das stellte sich als schwieriger heraus, als er geglaubt hatte. Durch die Feuchtigkeit und den Rost hatte sich der Verschluss festgefressen.
Er kramte aus seiner Tasche einen kleinen Briefkastenschlüssel heraus und setzte ihn zwischen die beiden Teile der Dose. Schneller als erwartet sprang sie auf. Zwei gelbe Pillen waren darin, die auf den ersten Blick aussahen wie ganz normale Tabletten, wie man sie von jedem Arzt verschrieben bekommt. Doch Wenger folgte seiner ersten Eingebung und roch an den Kapseln.
Sofort nahm er den unverkennbaren Geruch nach Bittermandel wahr. Ohne Frage waren es Zyankalikapseln, die er hier gefunden hatte. Vielleicht waren es sogar Hitlers Kapseln, die dieser nicht genommen hatte?
Wenger hielt die beiden Pillen in den Händen, und ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmte ihn. Jetzt hatte er etwas, das ihn untrennbar mit dem Führer verbinden sollte. Er legte die Kapseln zurück in die Dose und steckte alles in seine Jackentasche.
Er stand auf, noch immer überwältigt ob seines Fundes, wie ein Archäologe, stolz, etwas enorm Bedeutendes entdeckt zu haben. Dann ging er weiter in den Raum hinein und leuchtete die Wände ab. Zu seiner Rechten sah er ein Wandbild mit zwei uniformierten Soldaten rechts und links, die jeweils ihre langen Schutzschilde wie Flügel über zwei Paaren ausbreiteten – einem Liebespaar und zwei sich zuprostenden Biertrinkern. In der Mitte des Ensembles schwebten über allem die gotisch verschlungenen Initialen »LAH« für die Leibstandarte Adolf Hitler. Darüber thronte ein überdimensionaler Adlerkopf.
Nachdem er das Bild längere Zeit betrachtet hatte, schweifte sein Blick zur gegenüberliegenden Wand. Das Gemälde dort mit zwei flugbereiten Adlern im Zentrum erinnerte ihn unvermittelt an seinen Traum, in dem sich der riesige Vogel majestätisch und zugleich grazil in die Lüfte geschwungen hatte. Kurz darauf blieb sein Blick an einer jungen blonden Frau hängen. Wie schön sie war, so warm und weich. Das war seine Vorstellung von Germania.
Lange Zeit betrachtete er sie und konnte gar nicht genug von ihr bekommen. Schließlich kramte er seinen Fotoapparat aus der Jackentasche und fotografierte sie. Für immer wollte er sie in seinem Gedächtnis festhalten. Genau so sollten seine Opfer aussehen, wie diese Frau auf der Wandmalerei. Blond und schön, den Blick demütig gesenkt. Immer dienstbar und willig.
Es dauerte endlose vierzig Minuten, bis er sich von der Darstellung lösen konnte und weiterging. Auf einem der nächsten Bilder sah er schließlich einen SS-Mann mit zwei roten Langschildern, die er schützend wie ein Adler seine Schwingen über einer blonden Schönheit ausbreitete. Aber war das nicht die gleiche Frau?
Er trat einige Schritte zurück, und ein prüfender Blick genügte: Ja, es war die gleiche schöne blonde Frau. Über dieser Gottheit schwebte wie ein glückverheißender »himmlischer Bote« ein Fallschirmspringer mit einem roten Blumenstrauß herab. Rot wie Blut – so würden Wengers Opfer bald sein …
Schließlich betrat er das letzte Zimmer. Dort befand sich am nördlichen Ende ein Wandvorsprung. Darauf konnte er deutlich einen Adler im Sturzflug auf ein Flugzeug mit französischem Hoheitszeichen erkennen. Das war ja ganz großes Kino! Ja, der Adler, ein mythisches Wesen, überlegte er. So kraftvoll und unbesiegbar. Der Vogel vereinte alles, was Wenger immer hatte sein wollen.
Plötzlich überkam ihn, nachdem er alles gesehen und die Atmosphäre dieser Stätte tief in sich eingesogen hatte, ein Anflug von Traurigkeit, wie er sie sonst nicht kannte.
Hier unten und im ehemaligen Führerbunker war es also: Das Refugium, in dem Hitler seine letzten Tage verbracht und seinen letzten Atemzug getan hatte, bevor er für immer von der großen politischen Bühne abgetreten war. Ein dramatischer Abgang, ganz wie es zu Hitler passte, hatte er doch Zeit seines Lebens die Inszenierung und die Dramaturgie geliebt. Wie musste er sich in diesem Moment gefühlt haben?
Alles, wofür er je gekämpft hatte, war verloren. Niemand würde seine Mission fortsetzen. Alles, wofür er gelebt hatte, würde
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