Die Lust des Bösen
Tür war für sich allein genommen schon äußerst beeindruckend: fünfzig Zentimeter dick – ein halber Meter Stahl. Ein wenig rostig war sie über all die Jahre geworden, aber immerhin hatte sie den Krieg nahezu unversehrt überstanden.
Und dann war es so weit – er trat ein in das »Heilige Reich«: den sogenannten Fahrerbunker, einen der wenigen unterirdischen Räume, die den Zweiten Weltkrieg und die darauf folgende Zerstörung durch die Alliierten weitgehend unbeschadet überstanden hatten. Er schaute sich um, und was er sah, gefiel ihm. Die Atmosphäre dieses Gemäuers versetzte ihn unmittelbar zurück in das Jahr 1945, in die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges.
Die Wände waren durch die Erschütterungen einiger Einschläge, die es im Verlauf der Endkämpfe wohl gegeben hatte, rissig geworden und ließen Wasser eindringen. Dieses Wasser und auch Kalk hatten dazu geführt, dass sich an den Decken wie in einer Tropfsteinhöhle kleine Stalaktiten gebildet hatten. Hier unten war es kühl und feucht, aber er sog den modrigen Geruch geradezu gierig in sich ein. Die Wände erschienen ihm sehr massiv, zwischen 2,20 und 3,30 Meter dick, so schätzte er mit prüfendem Blick, mussten sie sein und aus sogenanntem blauem Beton gegossen.
Darüber hatte er viel gelesen, aber bis heute hatte er ihn noch nie gesehen. Jetzt staunte er nicht schlecht. Dieser Beton wurde heutzutage nicht mehr verwendet, weil er schlichtweg zu teuer war. Aber damals war er noch in einigen ausgewählten Bunkern und Flaktürmen verbaut worden, denn wegen seines hohen Zement- und Stahlgehaltes war er nahezu unzerstörbar gewesen.
Wenger strich mit seinen Händen so sanft über das Material, als wäre es eine besonders zerbrechliche, samtweiche Haut.
An etlichen Stellen konnte er Rostflecken wahrnehmen, die vermutlich von der langsam rostenden Stahlarmierung herrührten, die sich jetzt ihren Weg durch die Wände bahnte.
Nur kurz klopfte er an die Mauer, und ein wenig Kalk rieselte ihm entgegen.
Wie musste es in den letzten Kriegstagen hier unten gewesen sein? Wie hatten sich wohl der Führer und seine Leibstandarte in diesem Bunker gefühlt? Vermutlich hatten sie sich sicher aufgehoben gewusst, denn das Gebäude war einer Festung gleich. Aber dennoch: Wenn sie einige Zeit hier verbringen mussten, hatten sie bestimmt auch die Beklemmung gespürt, die sich auf einen legte, wenn man längere Zeit unter der Erde verbrachte. Dann stellte es sich ein, dieses Gefühl, lebendig begraben zu sein. Wie in einem steinernen Sarg, der einem mit seinen meterdicken Betonwänden die Luft abdrückt.
Während er seinen Gedanken nachhing, leuchtete Wenger mit seiner Taschenlampe auf den Boden. Es mussten etwa dreißig Meter sein, so lang war der Hauptgang des Bunkers, der bis auf einige braune Stellen an den Wänden, die vermutlich von der Feuchtigkeit herrührten, noch gut erhalten war. Erneut warf er einen Blick auf seinen Plan, nach dem es hier noch acht weitere Räume geben musste.
»Hmm, dann schauen wir doch mal, wo ihr euch versteckt habt.«
Und tatsächlich, kurz vor dem Ende des Hauptganges bemerkte er, dass hier noch weitere, kleinere Zimmer abzweigten. Zunächst betrat er den nördlichsten Raum und staunte. Was er dort vorfand, hatte er nicht einmal in seinen kühnsten Träumen erwartet. Das Gewölbe war über und über mit Wandmalereien versehen, die zum großen Teil sehr gut erhalten waren. Alle Darstellungen, die Wenger sah, befanden sich auf einem braunroten, paneelartigen, gemalten Streifen in etwa 1,40 Meter Höhe. Sie reichten bis kurz unter den Deckenansatz. Um die Kunstwerke anzufertigen, hatte der bis heute unbekannte Maler vermutlich Leimfarben verwendet.
Wenger strich über die Oberfläche, die sich glatt und ebenmäßig anfühlte. Es war eine große Wandmalerei, die sich hier zwischen Heizkörper und Lüftungsöffnung erstreckte. Er trat zurück, damit er sie besser erfassen konnte: Offenbar zeigte sie, wie griechische Götter eine Kriegsszene in gebirgiger Landschaft beobachteten. Oben im Bild sah man einen wütenden Zeus, der den Soldaten unter ihm runenartige Blitze entgegenschleuderte. Aber was war das?
Langsam bewegte Wenger sich näher zur Wand, weil er die schon leicht verblichene Zeichnung nicht mehr so gut erkennen konnte. Erst jetzt, bei genauerem Hinsehen, bemerkte er, dass es Athene war, die ihren Speer in die gleiche Richtung wie Zeus warf. Im unteren Drittel sah er dann, wer den Zorn von Zeus und Athene
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