Die Lust des Bösen
zerstört werden. Und er konnte nichts dagegen tun. Er war ohnmächtig.
Ein Gefühl, das ihm, dem großen Führer und Visionär, sonst fremd war. Nichts hatte es gegeben, das er nicht möglich gemacht hatte. Allmächtig war er gewesen. Der Führer des deutschen Volkes!
Wenger schloss die Augen: Jetzt, genau in diesem Augenblick, konnte er ihn atmen hören.
Wie unendlich traurig und allein musste Hitler gewesen sein?
Ganz allein. Niemand in seiner Nähe, der ihn wirklich verstand.
Alles nur Statisten und karrieresüchtige Aufsteiger, niemand, der ihm wirklich nahe kam. Keiner, der seine Seele berührte, niemand, der in seine Seele blicken konnte. Und die war verdammt verletzbar. In Hitlers Seele blicken, das konnte nur Wenger. Nur er verstand, was wirklich im Führer vorgegangen war und wie er sich in seinen letzten Minuten gefühlt haben musste.
Vermutlich hatte er gespürt, dass er jetzt keine Reserven mehr hatte. Die Gefühle der Ohnmacht, der Angst und des Selbstmitleids brachen sich ungehemmt Bahn und duldeten keine der pathetischen Camouflagen mehr, hinter denen er sich so lange versteckt hatte.
Zeitlebens hatte er Rollen gesucht und sie gespielt. Jetzt fand er keine mehr, weil er, anders als beispielsweise der von ihm bewunderte Friedrich, die wenigen Kräfte, die geblieben waren, ausgeschöpft hatte. Diese Haltlosigkeit war in Krämpfen, Wutanfällen und zahlreichen Ausbrüchen ungehemmten Schluchzens zum Ausdruck gekommen. Sie war so bezeichnend gewesen für sein Dilemma der verlorenen Rolle. Vermutlich hatte er Tränen in den Augen gehabt, sein Kopf hatte herabgehangen, und sein Gesicht war totenbleich gewesen, als er die Worte sprach, die Wenger gelesen hatte: »Jetzt bleibt nichts mehr. Nichts bleibt mir erspart. Keine Treue, keine Ehre mehr, keine Enttäuschung, kein Verrat ist mir erspart geblieben – und nun auch noch das. Alles ist aus.«
Alles ist aus, wiederholte Wenger in Gedanken und setzte sich auf einen Stuhl, der in der Mitte des Raumes stand und rostig und wackelig aussah. Er überlegte. Wie also würde seine Dramaturgie aussehen? Er könnte seine Opfer zunächst betäuben und sie hier herunter in den Bunker bringen.
Und danach?
Leiden sollten sie, und seine Wut sollten sie spüren, vor allem aber seine Macht. Sie waren ihm ausgeliefert, er war ihr Todesengel. Und sie sollten wissen, dass es von hier kein Entrinnen mehr geben würde. Er wollte seine Opfer etwas von der Ausweglosigkeit spüren lassen, in der sich der Führer vor seinem Selbstmord befunden hatte. Für ihn hatte es damals kein Zurück gegeben – und auch für Wengers Opfer würde kein Ausweg mehr existieren. Nur eine Bestimmung – und die hieß Tod.
Aber wie um alles in der Welt sollte er die Frauen den beschwerlichen Weg durch die Kanalisation und das Schienen- und Tunnelsystem hierher in den Bunker bringen?
Es musste noch einen anderen Weg geben – einen, der unauffälliger, weniger gefährlich und zeitaufwendig war. Vielleicht gab es ja noch einen anderen Zugang zum Bunker.
Fragen, auf die er im Augenblick einfach keine Antwort fand.
Aber er war sich sicher, dass er dieses kleine Problem auch noch lösen würde.
J ack Braun saß in seiner Penthousewohnung im elften Geschoss und genoss die Aussicht. Von hier oben hatte er einen fantastischen Blick in das Forum des Sony Centers und auf den gegenüberliegenden Potsdamer Platz. Er mochte diesen weiten Blick über die Dächer hinweg. Das gab ihm das Gefühl von Freiheit, die er sich so hart erkämpft hatte.
Zwei Jahre war es jetzt her, seit er zum ersten Mal mit der Nationalpartei in Kontakt getreten war. Und heute war er ihr Vorsitzender und Spitzenkandidat für die nächste Bundestagswahl.
Seit er sich in diesen Wahlkampf eingebracht hatte, flogen ihm die Wählerherzen – insbesondere die der weiblichen Wähler – reihenweise zu. Er war zu einer Art Popstar der Politik geworden: jung, smart, charmant und charismatisch. Seine Anhänger gerieten schnell in einen Zustand euphorischer Schwärmerei und seine stärkste Wirkung entfaltete er immer dann, wenn er durch scheinbar einfache, aber menschliche Gesten Performance und Menschlichkeit miteinander verband. Stets suchte er den Kontakt mit seinen Wählern, und er konnte Menschen tief berühren – nicht nur als genialer, emotionaler Redner mit geradezu beeindruckender Professionalität und Entschlossenheit, sondern vor allem als ein Mensch, der seine Schwächen nicht verschwieg, Fehler zugab und authentisch
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