Die Lust des Bösen
achtete stets darauf, dass seine Tochter sich in die Tradition einfügte und ihnen keine »Schande« machte. Die Geschichte der Familie Hausmann reichte bis ins Jahr 1674 zurück, und vermutlich genauso lange befand sie sich im Blickpunkt der Öffentlichkeit.
Über alledem aber stand für sie ihr geliebter Großvater. Er war ein warmherziger alter Mann, der eher unkonventionell dachte, mit dem sie viel lachen konnte und der immer spannende Geschichten parat hatte. Oft saß sie mit ihm in der großen Eingangshalle der Familienvilla am Stadtrand von Frankfurt, und er erzählte ihr davon, wie es früher einmal gewesen war: Wie er ihre Großmutter kennengelernt und sie seinem besten Freund vor der Nase weggeschnappt hatte, oder Anekdoten aus der Firmenhistorie.
»Es gab Zeiten, mein kleiner Engel«, sagte er einmal zu ihr, »die nicht so golden waren wie heute. Gerade in der Zeit des Nationalsozialismus war es für uns nicht immer leicht, aber dadurch haben wir gelernt, auch schlechte Zeiten zu überstehen.«
Jetzt war ihr Vater Chef der Privatbank Hausmann, und er war einer der wenigen Banker, die für moralische Werte eintraten und gesellschaftliche Verantwortung übernahmen. Seit vielen Jahren schon setzte er sich für die Kinder in Afrika ein, die ihre Eltern durch AIDS verloren hatten – von einem solchen Schicksal waren, Schätzungen zufolge, immerhin mehr als fünfzehn Millionen Kinder betroffen.
Vielleicht war es diese Mischung aus sozialem Engagement und traditionell geprägten, grundsoliden Geldanlage-Strategien, die dazu beigetragen hatte, dass die Bank heute besser denn je dastand. Auch die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise hatte die Grundfesten des Traditionshauses nicht erschüttert, denn die seit jeher im Familienbesitz befindliche Bank war schon immer konservativ geführt worden. Nur ein kleiner Teil ihrer Gewinne wurde ausgeschüttet, der Rest verblieb in der Bank. »Um das Fundament für die nächsten dreihundertfünfunddreißig Jahre zu stärken«, wie Hannahs Vater oft sagte.
Während dieser sich um die Geschicke der Privatbank kümmerte, hatte es ihre Mutter bis in die oberen Führungsetagen einer anderen deutschen Großbank geschafft. Ihre Eigenständigkeit war ihr immer viel wert gewesen. Sie hatte nicht von ihrem Mann abhängig sein, sondern selbst etwas erreichen wollen. Diese Einstellung hatte sie auch ihrer Tochter mitgegeben.
Als ihre über alles geliebte Mutter bei einem Autounfall gestorben war, war Hannah gerade erst dreizehn Jahre alt gewesen. Noch immer erinnerte sie sich an jene Nacht, als ihre Mutter tränenüberströmt und am ganzen Leib zitternd in ihr Zimmer gestürzt war und zu ihr gesagt hatte: »Komm, meine Kleine, wir müssen gehen.«
»Warum?«, hatte Hannah damals gefragt, aber keine Antwort erhalten. Doch im Grunde ihres Herzens hatte sie es ja schon gewusst, hatte sie doch den heftigen, lauten Streit ihrer Eltern mitgehört. Vater hatte wohl mal wieder eine seiner zahlreichen Affären gehabt, und ihre Mutter hatte jetzt endgültig die Nase voll davon. Wieder und wieder hatte Hannah das in den letzten Jahren miterlebt, und immer war ihre Mutter zurückgekehrt. Aber an diesem Tag war es anders. So hatte sie sie noch nie erlebt. So entschlossen und zugleich verzweifelt. Vater war die große Liebe der Mutter.
Er war ein ausgesprochen attraktiver Mann, der auf Frauen schon immer eine gewisse Anziehungskraft ausübte. Grau melierte, volle kurze Haare, eine markante Nase und sanfte braune Augen. Dazu ein unglaublich zielbewusster, unbeirrter Blick, der dem Gegenüber wenig Raum ließ, seinen eigenen Standpunkt zu vertreten. Aber Vater konnte auch ungeheuer zärtlich und liebevoll sein.
Hannah bewunderte ihn sehr für sein Engagement und hasste ihn gleichermaßen wegen seiner Affären und dafür, dass er ihrer Mutter damit so viel Leid zugefügt hatte.
Nur zu gut erinnerte sie sich an alles, was dann geschehen war. Sie war mit ihrer Mutter auf der Bundesstraße von Frankfurt nach Bad Homburg zu ihren Großeltern unterwegs gewesen, als mit einem Mal ein Gewitter aufzog und es zu blitzen und zu donnern anfing. Innerhalb von Minuten war die Straße durch die sintflutartigen Regengüsse überschwemmt worden. Zeitweise hatten sogar die Scheibenwischer Mühe gehabt, den Regen zu bewältigen.
Alles Weitere ging viel zu schnell. Plötzlich tauchte ein Reh auf der Fahrbahn auf, panisch versuchte die Mutter zu bremsen, der Wagen geriet ins Schleudern, kam von der Fahrbahn ab
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