Die Lust des Bösen
und überschlug sich.
Als Hannah dann im Krankenhaus wieder zu sich kam, war ihre Mutter schon tot. Wie oft hatte sie – außer sich vor Schmerz und Zorn – ihren Vater in den Tagen, Monaten und Jahren danach angeschrien:
»Du bist schuld, du hast Mama getötet!«
Die Todesursache war eigentlich klar: Ihre Mutter hatte die Kontrolle über das Fahrzeug verloren und war beim dadurch bedingten Unfall gestorben. Aber Hannah war sich sicher, dass ihr Vater schuld an ihrem Tod war.
»Du mit deinen Affären! Das musste ja irgendwann mal so kommen!«, brüllte sie ihn dann an, mit all der Wut, die sich in ihr aufgestaut hatte. Sie war fest davon überzeugt, dass ihre Mutter noch leben würde, wenn er ihr das nicht angetan hätte.
Natürlich wollte ihr Vater, dass sie die Familientradition fortführte und übernahm. Aber seine Tochter dachte nicht daran, denn das alles interessierte sie nicht im Geringsten. Die vielen Zahlen, Bilanzen und die ach so ehrenwerten konservativen Banker, das war nichts für sie.
Sie wollte Menschen verstehen, wollte wissen, was diese antreibt, wollte in ihre Seelen blicken können.
Schließlich hatte sie sich, wie so oft, durchgesetzt und ihr Psychologiestudium an der Berliner Humboldt-Universität begonnen. Endlich konnte sie sich von zu Hause und ihrem Vater lösen. Zwar hatte er es immer gut mit ihr gemeint, und sie war stets sein »kleiner Engel« – aber sie hatte ihm nie verzeihen können. Immer hatte sie ihn spüren lassen, dass er für sie ein Schuldiger war – einer, der büßen musste für das, was er ihrer Mutter und ihr selbst angetan hatte. Jetzt war es so weit, dass sich der »kleine Engel« aus der Umklammerung befreien wollte.
Sie hatte in Berlin-Kreuzberg eine nette WG mit zwei reizenden jungen Männern gefunden – zwei Schwule, die gern kochten und viel Geschmack hatten. Es dauerte nicht lange, und die drei wurden zu einem eingespielten Trio. Benni und Kurt waren süß, aufmerksam und verständnisvoll, und sie sprach mit ihnen bald über alles. Hannah fühlte sich wohl in ihrem neuen Zuhause.
Die Miete für ihr WG-Zimmer kam jeden Monat pünktlich von ihrem Vater. Aber das war dann auch die einzige finanzielle Unterstützung, die sie annahm. Ihr Studium und alles, was dazu gehörte, wollte sie sich selbst verdienen. Wie ihre Mutter es ihr immer vorgelebt hatte, wollte sie eigenständig und nicht abhängig vom Geld des Vaters sein.
Damit das auch so blieb, hatte sie sich einen Job gesucht. Einen, mit dem sie genug verdiente, um gut über die Runden zu kommen und hin und wieder auch einmal nach Herzenslust über die Stränge schlagen zu können: Shoppen – Schuhe, stylische Klamotten und alles, was das Frauenherz sonst noch begehrt.
Vielversprechend hatte das alles geklungen, was ihr Frau Dr. Veith, die Chefin der Escort-Agentur »Lovebird«, vor drei Monaten über ihren neuen Job erzählt hatte. Fünfhundert Euro würde sie für zwei Stunden bekommen. Das war mehr, als sie in vier Wochen bei den meisten Studentenjobs verdiente. Wenn sie das nur zwei- oder dreimal im Monat machen würde, könne sie sehr gut davon leben, hatte Dr. Veith ihr versichert. Ihre Kunden kämen aus den allerbesten Kreisen der Gesellschaft: Politiker, Wirtschaftsbosse und Schauspieler.
»Warum nicht?«, hatte Hannah anfangs gedacht. Sie mochte Männer, und die Männer mochten sie. Warum also nicht auf diese Weise Geld verdienen? Was erotische Fantasien und den Umgang mit Sex anbelangte, war sie ohnehin schon immer freizügig gewesen. Was sie aber alleine schon mit ihren ersten Kunden erlebte, war auch für sie hart an der Grenze. Sexuelle Abgründe schlummerten in den meisten. Viele von ihnen waren schon jahrelang in der Hardcore-Sadomaso-Szene unterwegs und wollten mit ihr stets neue SM-Spiele ausprobieren.
So wunderte es Hannah auch nicht weiter, als ihre Chefin ihr in der Agentur eines Tages diesen sonderbaren Fotografen vorstellte. Er kam ihr nicht nur seltsam und der wirklichen Welt entrückt vor, nein, der hünenhafte Mann machte ihr Angst. Er glotzte sie an, musterte sie mit einem Blick, der nicht begehrlich war wie der ihrer Kunden. Nein, dieser Blick war kalt und abschätzig.
Vielleicht war es aber auch nur sein merkwürdiges, ja, man könnte sagen hässliches Aussehen. Ihre Chefin aber schien ihn zu kennen. Sie erklärte ihr, dass die Agentur schon einige Jahre mit ihm arbeite. Früher habe er die Mädchen zu ihren Terminen chauffiert und sie wieder abgeholt, und heute wollte
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