Die Lust des Bösen
keine Hitze. Bewegen konnte sie sich einfach nur durch ihr Denken. Nicht abrupt und auch nicht hastig, sondern nur durch die Macht ihrer Gedanken und die ihres Willens.
Hannah wusste, dass sie hier schon einmal gewesen war. Sie verspürte keine Furcht mehr, denn alles war friedlich und wunderschön. Wie auf einem Gemälde des Malers Hieronymus Bosch, »Der Garten der Lüste«, standen einige Menschen auf blühenden Wiesen und an Bäume gelehnt, und sie alle wirkten zu perfekt und makellos, um irdisch zu sein.
Dann sah Hannah ihre schon vor Jahren verstorbene Mutter, und sie konnte mit ihr sprechen. Sie wollte schreien vor Glück, aber das musste sie gar nicht. Sie konnten kommunizieren, ohne zu sprechen, denn sie wussten, was der andere dachte.
Das alles vollzog sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit, und dennoch gab es keine Missverständnisse oder Dinge, die man hinterfragen musste. Es war einfach alles sonnenklar und friedlich. Es gab keinen Hunger, keinen Durst und auch sonst keine Bedürfnisse, die befriedigt werden wollten. Hannah sehnte sich weder nach ihrem materiellen Körper noch nach irgendetwas anderem als dem, was sie hier fand und wahrnehmen durfte. Sie war tot.
Wenger hatte derweil ihr Gehirn entfernt, indem er es mit einem Ruck aus dem Schädel gerissen hatte. Er drehte und wendete es in seinen Händen wie einen wertvollen Diamanten. Ein wenig glitschig, dieses Ding, das uns Menschen steuert, dachte er. Sieht aus wie eine überdimensionale Walnuss, nur eben nass und warm. Er nahm Hannahs Gehirn und legte es in ein mit Formalin befülltes Glas.
»Herr«, flehte er und hielt sich dabei an das Buch Mose, »errette ihre Seele und sieh nicht hinter sie.«
Dann begann er mit der Öffnung des Brustkorbs. Wie ein Chirurg, der das Ganze schon unzählige Male durchgeführt hatte, hantierte er zielsicher und präzise mit dem Skalpell.
Er führte den Y-Schnitt aus, der mittlerweile jedem Fernsehzuschauer durch Serien wie »Autopsie« oder »Der letzte Zeuge« bekannt war. Rechts ein Schnitt, links ein Schnitt, und dann noch einen in der Mitte. Das war gar nicht so einfach, weil die menschliche Haut so nachgiebig wie die einer Gummipuppe ist.
»So, jetzt entferne ich die Rippen, um an das Herz zu kommen«, murmelte er leise vor sich. Zunächst durchtrennte er mit einem Schnitt die Rippenknorpel. Dabei durchsägte er, beginnend mit dem Rippenbogen, jede einzelne Rippe. Jetzt musste er noch die Zwischenrippenmuskulatur mit einem Messer kappen. Anschließend nahm er den Rippenspreizer, um den Brustkorb aufzustemmen und besser weiterarbeiten zu können. Jetzt hatte er einen freien Blick in das Innere von Hannahs Körper. Er löste das Schlüssel- und Brustbein, hob es ab und legte den Thymus frei – ein kleines Gewebestück, das vor dem Herzen liegt. Anschließend öffnete er den Herzbeutel, fing die Flüssigkeit auf und entnahm das Herz. Als er es in seinen Händen hielt, war sein Glück vollkommen.
»Erhöre mich, Herr«, flehte er. »Erhöre mich, dass du ihr Herz danach bekehrst«, interpretierte er das Buch der Könige.
Ein unglaubliches Gefühl der Befriedigung stellte sich ein, und er betrachtete das Herz eine Weile: nur ein faustgroßer Hohlkörper in der Form einer umgedrehten Birne mit ein wenig Fett- und Muskelmasse, etwa dreihundert Gramm schwer. Nachdem er es einige Zeit in seinen Händen gehalten hatte, legte er auch das Herz in ein mit Formalin gefülltes Glas und verschloss es.
Jetzt begannen die Aufräumarbeiten.
Er legte den mitgebrachten Plastiksack auf den Boden und wickelte sein Opfer damit ein. Dann schlang er so lange Klebe band darum, bis er ein perfekt verschnürtes Paket vor sich hatte, das er schließlich auf seine Schultern hob, hinunter zum Auto trug und dort in den Laderaum legte. Zurück im Sektions raum spritzte er alles mit einem Wasserschlauch ab, nahm dann die mitgebrachten Desinfektionsbehälter und verteilte die Lösung gleichmäßig über Sektionstisch und Boden. Er wischte, schrubbte und polierte mindestens zwanzig Minuten lang; erst dann war er zufrieden. Der Raum sah aus, als wäre nie etwas geschehen. Er nahm die zwei Glasbehälter mit seinen Trophäen vom Beistelltisch, packte sie in seinen Rucksack und ging zum Auto.
Das letzte Kapitel stand bevor, und vielleicht war dies einer der schönsten Teile seiner Mission: Er würde seinem Führer das erste Opfer bringen.
Gut gelaunt gab er Gas und fuhr aus der Tiefgarage des Instituts heraus in Richtung der
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