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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassandra Negra
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eine Menge Schutt und Geröll aufgetürmt. Es gibt Teile der Stahlarmierung, die freigelegt sind und Sie aufspießen könnten, wenn Sie einen falschen Schritt machen und ins Rutschen kommen.«
    Er vergewisserte sich, dass die Mahnung bei den Teilneh mern angekommen war. Dann fuhr er mit der Erläuterung fort.
    »Setzen Sie bitte die im Eingangsbereich bereitgelegten Helme auf. Aus hygienischen Gründen haben wir auch an Haarnetze für Sie gedacht. Die sehen zwar nicht besonders sexy aus, aber wir sind ja auch nicht auf dem Weg zu einem Fotoshooting mit Heidi Klum.«
    Die Gruppe lachte, aber Carlson blieb ernst. Er wollte unbedingt noch ein paar Worte zu den Helmen loswerden. »Sie finden hinten an den Helmen ein Rädchen, mit dem Sie Ihr Halteband in eine passende Größe bringen können. Bitte betätigen Sie dieses Rädchen nur, wenn Sie den Helm abgesetzt haben. Immer wieder ist es in der Vergangenheit vorgekommen, dass sich insbesondere Damen mit langen Haaren fast skalpiert haben, weil sich ihre Haare in dem Rädchen verfangen haben. Und dort gibt es Gummistiefel für die, die keine eigenen dabeihaben. Bitte ziehen Sie sie an, denn es wird nass dort unten. So, na dann. Nach diesen Worten wünsche ich uns allen jetzt viel Freude bei dieser spannenden Exkursion.«
    Es war kurz nach drei, Freitagnachmittag, als die Gruppe mit dem Abstieg begann. Über eine schmale Steintreppe ging es hinunter ins Dunkel, das den Blick aufsaugte wie ein schwarzes Ungeheuer.
    »Willkommen in einer anderen Welt«, sagte der pensionierte Richter. »Gestatten Sie mir noch schnell ein paar Hinweise: Achten Sie auf Ihre Köpfe, die Decken sind teils äußerst niedrig. Und schalten Sie bitte Ihre Mobiltelefone aus! Obwohl, die dürften hier sowieso Empfangsprobleme haben.«
    Währenddessen ratterte eine U-Bahn durch den benach barten Schacht; ein sonst vertrautes Geräusch, das hier unten allerdings ausgesprochen bedrohlich klang. Als er sah, dass sich einige erschrocken hatten, warnte er die Gruppe, dass in fünf Minuten die nächste Bahn kommen würde.
    Und mit jedem Schritt hinab baute sich vor ihnen Stück für Stück ein Ensemble auf, in dem im Zweiten Weltkrieg die Berliner Bürger Schutz vor Luftangriffen gesucht hatten, wo Men schen gestorben, Kinder zur Welt gekommen oder Zwangs arbeiter geknechtet worden waren.
    Die Gruppe lief weiter durch das stillgelegte U-Bahn-Netz und Teile des Tunnelsystems der Stadt.
    »Jetzt zeige ich Ihnen, warum diese Tunnel hier so beein druckend sind«, teilte Carlson seinen Teilnehmern mit, während einige von ihnen unaufhörlich stolperten, weil riesige Steine auf den Gleisen lagen.
    »Seien Sie vorsichtig«, warnte er, »benutzen Sie Ihre Taschenlampen. Man weiß nie, was einen hier erwartet. Es ist nicht nur ein Stück deutscher Geschichte, das wir erleben, sondern vor allem auch die ganz besondere Akustik, die hier so einmalig ist.« Er begann zu pfeifen. Es dauerte keine Sekunde, bis seine Pfeiftöne kräftig reflektiert wurden. Die Gruppe war beeindruckt. »Hören Sie, ein neunfaches Echo!«, rief er begeistert.
    Früher, erzählte er, habe er hier unten auch mal auf seinem Saxofon gespielt. »Vielleicht könnte man ja mal eine CD aufnehmen«, meinte einer der Besucher, und die Gruppe lachte. Endlich, es war ein fast befreiendes Lachen, das hier unten so unwirklich klang, als käme es aus einer anderen Welt.
    »Aber bevor wir eine solche CD aufnehmen und den Klang der Unterwelten für alle Zeiten festhalten«, entschlüpfte es Carlson, der aus seinem Herzen eben keine Mördergrube machen konnte, »sollte die Hauptstadt erst einmal überlegen, wie sie die historische Substanz, die hier unten schlummert, weiter erschließen kann.«
    Leider, fuhr er fort, gäbe es immer noch einige Politiker, die das nicht so gerne sehen würden. Und das, obwohl die Geschichte Berlins, anders als die der meisten europäischen Metropolen, keine des beständigen Auf- und Umbaus, sondern eine der Brüche und Katastrophen war, deren Spuren sich gerade hier im Untergrund deutlich abzeichneten.
    »Folgen Sie mir«, bat er die kleine Gruppe, während er seine Ausführungen fortsetzte. Gerade hier in diesen Tunnelruinen unter der Berliner Mitte ließen sich auch die gescheiterten U-Bahn-Projekte der zwanziger und dreißiger Jahre studieren. Die Kriegsbunker, die sie gleich sehen würden, spiegelten besser als jede Fernsehdokumentation den täglichen Ausnahmezustand des Dritten Reichs wider.
    Immer weiter musste die Gruppe

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