Die Lust des Bösen
über Geröllmassen steigen. Dann wurde es feucht, und bräunliches Wasser bedeckte den Boden knöcheltief.
»Jetzt wissen Sie«, bemerkte der passionierte Unterweltenforscher, »warum Sie unbedingt Gummistiefel tragen und sich trotz der sommerlichen Witterungsbedingungen draußen warm anziehen sollten. Denn hier unten, in der eiskalten, feuchten Tunnelluft, ist der Sommer nicht einmal zu ahnen.«
Einige seiner Gäste kamen immer wieder ins Rutschen.
»Vorsichtig«, mahnte er, »achten Sie auf jeden Ihrer Schritte.« Hier unten lagen überall alte Scherben, Steine, Stahlreste und andere Dinge herum, mit denen man nicht rechnete.
Die kleine Gruppe bahnte sich weiter ihren Weg in den Bauch der Unterwelt Berlins, zwischen geborstenen Wänden hindurch, durch Schwaden feuchter Kühle. Im Weitergehen hoben sich Grautöne aus der Finsternis; Bögen und Kuben aus nassem Beton, hinter denen zugige Abgründe lagen.
Dann erreichten sie den ersten Bunker. Einer der alten Luft schutzbunker, in denen während des Zweiten Weltkriegs die Menschen Schutz vor den Bomben gesucht hatten, erklärte Carlson.
Es war eine bedrückende Atmosphäre, die auch die Gruppe erfasste. Hier unten, in muffiger Luft und beklemmender Enge, hatten sich die Bunkerinsassen einst stundenlang aufhalten müssen.
Ein Stück weiter, erläuterte Carlson, gab es einen weiteren Bunker, der erst nach dem Kalten Krieg fertiggestellt worden war. Er bot Schutz für fast viertausend Menschen. Bis heute lagerten dort hinter schweren Luftschleusen und Betonwänden Tausende Liter Diesel für die Notstromaggregate, vierstöckige Betten sowie einige hundert Leichensäcke.
Die Gruppe fröstelte nicht nur wegen der gruseligen Atmosphäre, sondern auch aufgrund der Schilderungen, die sie gerade von ihrem Guide gehört hatten. Die meisten von ihnen konnten sich nicht vorstellen, hier auch nur eine Stunde lang ausharren zu müssen, geschweige denn gar tagelang.
»Kommen Sie!«, forderte er sie auf, und die Teilnehmer setzten sich dankbar wieder in Bewegung. Weiter ging es, vorbei an meterdicken Betonbrocken, nur von einem dünnen Netz rostiger Stahlstreben gehalten, die von der zerbrochenen Decke herabhingen. Schuttlawinen, wohin das Auge reichte, Erde, Ziegel und zerbrochener Hausrat drangen von allen Seiten in die feuchten Verliese hinein.
Still war es hier unten, wäre da nicht stets die Stimme des Unterwelten-Chefs gewesen. Im Winter könne man hier Fledermäuse sehen, es sei ein Paradies für diese seltene Spezies, erklärte er gerade.
Plötzlich wurde es heller. Carlson strahlte mit seiner Lampe direkt die riesige, rostige Eingangstür an, die vor ihnen lag. Der pensionierte Richter öffnete die Tür, die widerspenstig nachgab und dann aufschwang.
»Dann treten Sie mal ein in die gute Stube.«
Endlich, nach einem beschwerlichen, stundenlangen Fußmarsch, der ihnen gerade auf den letzten Metern schier endlos erschienen war, hatten sie den Eingang des Fahrerbunkers erreicht. Ein Betonkoloss eröffnete sich ihnen, und sie liefen etwa dreißig Meter einen engen Gang entlang. Es war, als wollten die Wände dieses Bunkers sie jeden Moment erdrücken, bis sie endlich am Ende des Schlauches ankamen.
»Kommen Sie, hier werden Sie Zeuge der NS-Kunst; Wandmalereien, die Sie sicher hier nicht vermutet hätten«, sagte Carlson.
Der Pensionär war schon in den kleinen Raum eingetreten, als das Licht seiner Taschenlampe über den Boden fuhr. Nicht sofort erfasste er, was dort lag. Langsam ließ er den Lichtkegel seiner Taschenlampe noch einmal darüber kreisen.
Dann stockte ihm der Atem! Die grauenvoll zugerichteten Überreste eines Menschen. Als Richter waren ihm menschliche Abgründe nicht fremd. Aber das hier überstieg jede Vorstellungskraft. Er versuchte, die Teilnehmer zu beruhigen. Jetzt musste er schnell handeln, sonst brach womöglich Unruhe oder Panik aus. Die Polizei musste benachrichtigt werden. Aber so einfach war das hier unten nicht – ohne Mobilfunknetz. Also bat er die Gruppe, mit ihm zurückzugehen, um Hilfe zu holen. Einige der Teilnehmer hatten gar nicht realisiert, was passiert war. Welcher Irre hatte sich ausgerechnet den Bunker für seine abscheuliche Tat ausgesucht?
Zwanzig Minuten später trafen die beiden Kommissare zusammen mit der Spurensicherung ein.
»Na«, platzte Max Hofmann heraus, »dein erster großer Fall.« Fast fürsorglich sah er Lea an. »Schon aufgeregt?«
»Nein«, log sie, wenngleich ihr gerade tausend Gedanken darüber
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