Die Lust des Bösen
seien sehr treu, erklärte Lea. Damals schon hatte sie sie für ihre ehrliche Zuneigung bewundert. Heute wisse sie, dass es diese Form der bedingungslosen Hingabe und Liebe bei Menschen nur äußerst selten gebe.
Wie wahr, sinnierte Hausmann.
Und je mehr sie über ihre damalige Zeit berichtete, desto mehr kam sie ins Schwärmen. Ihre Augen leuchteten. Ja, sie habe eine glückliche Kindheit gehabt. Noch heute hatte sie zu ihrer Tante Mary eine sehr vertraute, innige Bindung – wenn der Kontakt auch nicht mehr so regelmäßig war wie früher.
»Ja, und jetzt bin ich – wie Sie wissen – beim LKA gelandet.« Seit sie denken könne, habe sie verstehen wollen, was Menschen antreibe und was sie zu Bestien werden lasse. Sie wolle wissen, was unter gleichen Bedingungen in einigen Menschen das Böse wecke und in anderen nicht.
Auch der dünnhäutig gewordene Manager hatte sich diese Frage in letzter Zeit öfter gestellt. Was mochte das wohl für ein Mensch gewesen sein, der seine Tochter auf dem Gewissen hatte? Aber er fand keine Antwort, keinen Zugang, und genau deshalb hörte er der jungen Profilerin aufmerksam zu – auch wenn sie genau wie er nach einer Antwort suchte.
Ein Junge beispielsweise, erklärte sie, der von seinem Vater missbraucht worden sei, werde später zum Mörder, während ein anderes Kind, dem das gleiche Schicksal widerfahren sei, sich ganz normal entwickele und unauffällig bleibe. Warum?
Sie wolle wissen und begreifen, was in ihnen vorging, wolle es mit all ihren Sinnen erfassen, und deshalb sei sie Profilerin geworden. Aber es gehe ihr vor allem darum, die Welt etwas besser zu machen, indem sie sie von einigem Bösen befreite.
Einen solchen Idealismus hatte Hausmann von Anfang an bei ihr vermutet. Nur noch wenige übten ihren Job aus eben jenen Gründen aus und nicht, weil sie sich Anerkennung, Karriere oder viel Geld versprachen.
Nein, ihr ging es um mehr. Sie war ein Mensch, der begeistert hinab in Tiefen tauchte, in die sich nur wenige vorwagten, weil sie Angst davor hatten, dem steigenden Druck nicht gewachsen zu sein, oder davor, dass der Tiefenrausch ihr Urteilsvermögen eintrübte und sie nicht mehr wussten, wer sie waren.
Nein, er war sich sicher, dass diese junge Frau es schaffen würde. Sie würde ihn finden, den Mörder seiner Tochter, weil sie bereit war, sich in jene Tiefen vorzuwagen, ohne Rücksicht auf ihre eigenen Grenzen. Sie war eine Grenzgängerin!
D as Gespräch mit Hausmann hatte die junge Kommissa rin noch lange beschäftigt. Das Vertrauen, das er in sie setzte, ehrte sie. Dennoch hatte sie Angst, seine Erwartungen – aber auch ihre eigenen – nicht erfüllen zu können. Noch immer stand die Frage nach der Identität des Täters im Raum und verlangte nach einer Antwort.
Sie brütete über seinem möglichen Profil und hatte den Eindruck, dass sie der Antwort noch nicht entscheidend nähergekommen war. Der Druck, der auf ihr lastete, wurde größer. Eine Pressekonferenz stand kurz bevor, und auch ihr Chef wollte Ergebnisse sehen.
Immerzu drängten sich die Bilder des Opfers in ihr Bewusstsein. Sie erinnerte sich an die Nadelstiche, die Mayer erwähnt hatte und die wahrscheinlich von Injektionsspritzen verursacht worden waren.
Im Körper des Opfers hatte man drei verschiedene Sedativa und Narkotika gefunden, die eigentlich nur im ärztlichen Bereich der Anästhesie verwendet wurden und nicht für jedermann erhältlich waren. Alles deutete darauf hin, dass der Mörder ein medizinisch versierter oder zumindest entsprechend vorgebildeter Mensch sein musste.
Sie blätterte in Hannahs Akte, schaute sich noch einmal den gerichtsmedizinischen Befund und die Fotos an und bemerkte erst jetzt, dass es auch an der Brust Spuren gab – scharfe Einschnitte, über die sie bei der Obduktion gar nicht gesprochen hatten.
Der Täter hatte sein Opfer in seine Gewalt gebracht und ihm dann dosiert Narkotika verabreicht, die es möglicher weise nur in einen Zustand der Handlungsunfähigkeit, nicht aber der Bewusstlosigkeit bringen sollten. Um das Geschehen dynamischer zu gestalten, manipulierte er am wehrlosen Opfer wahrscheinlich zunächst mit Nadeleinstichen in die Brust, die ja offenbar eine besondere Anziehungskraft auf ihn ausübte. Nach vermutlich mehreren verschiedenen Drohdemonstra tionen hatte er anschließend der jungen Frau Risswunden am Hals und am Rumpfbereich zugefügt – alles natürlich mit dem Wunsch und dem Gefühl, ihre Angst und damit seine Überlegenheit
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