Die Lutherverschwörung - historischer Roman
einem Traum erwacht, hob er den Kopf, zog die Brauen hoch und brummte: »Was ist?«
Sie zeigte auf Wulf. »Andreas hat einen Gast mitgebracht.«
Siegfried starrte Wulf mit offenem Mund an. »Wer ist das?«
»Woher soll ich das wissen?«, gab die Frau zurück. »Bin ich eine Hellseherin?«
»Warum wirst du immer gleich so aufbrausend?«
»Ich? Aufbrausend? Das ist wohl ein Witz!«
»Meine liebe Clothilde, wir sind seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet«, sagte Siegfried, »und ich weià genau, wann du aufbrausend bist.«
»Ach was, du weiÃt gar nichts.«
Er runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Genau so, wie ich es gesagt habe.«
Er wandte sich an den alten Mann, der das Gespräch mit sichtlicher Genugtuung verfolgte. »Vater, das alles habe ich dir zu verdanken.«
»Nicht vor den Kindern«, mahnte Clothilde.
Siegfried fasste Wulf ins Auge, dann seinen Teller, auf dem der Braten kalt wurde. »Wer seid Ihr und was wollt Ihr?«
»Esst weiter«, sagte Wulf. »Ich bin Kaufmann und habe eine lange Reise hinter mir. Sämtliche Herbergen sind belegt und ich suche privat ein Quartier. Ein einfaches Lager genügt â und wenn es im Kornspeicher ist. Ich stelle keine Ansprüche und zahle jeden Preis.«
Die letzten Worte machten den Familienvorstand hellhörig, und er legte den Kopf ein wenig zur Seite, um Wulf besser betrachten zu können. Auch der Blick seiner Frau wirkte nun gnädiger.
»Ich würde gerne helfen«, sagte Siegfried, »aber wir haben bereits Gäste im Haus.«
»Der Speicher ist gar keine schlechte Idee«, unterbrach seine Frau. »Wenn er damit zufrieden ist.«
»Meinetwegen. Aber wir können Euch lediglich eine Morgensuppe reichen und einen Schlaftrunk, um die übrigen Mahlzeiten müsst Ihr Euch selbst kümmern. Ein gutes Essen bekommt Ihr zum Beispiel im âSchwanâ â oder Ihr geht in das Kaufhaus in der Kämmerergasse. Auch für Holz und Licht müsst Ihr selbst sorgen. Seid Ihr zu Pferd gekommen?« Wulf nickte, er hatte es für teures Geld in einem Stall untergebracht. »Einen Stand für das Pferd könnten wir Euch bieten, wenn Ihr Hafer und Stroh selbst kauft. Seid Ihr bereit, zwei Albus pro Nacht zu bezahlen?«
Das war Wucher, aber Wulf lieà sich nichts anmerken. »Selbstverständlich. Für mein Pferd allerdings habe ich schon einen Stall gefunden.«
»Dann sind wir uns einig. â Andreas, zeig ihm den Weg zum Speicher.«
Mit einem letzten Blick auf das Bratenfleisch folgte Wulf dem Sohn des Hauses. Während sie die steile Treppe hinaufkletterten, verfolgte ihn der Duft mit ungebrochener Intensität. Sie erreichten das oberste Stockwerk, wo sich der Kornspeicher befand. Hier könne er sich irgendwo nach Belieben einen Platz suchen, sagte Andreas. Wenn er für sein Pferd Hafer brauche, könne er zum Nachbarn gehen, der verkaufe das Malter für zwölf Albus. Auch Licht, Stroh und Decken gebe es dort sicherlich, allerdings seien die Preise gesalzen. Wulf dankte vielmals, und sein Begleiter verabschiedete sich.
Es war stockfinster hier oben. Wulf tat ein paar Schritte, stolperte und landete in einem Kornhaufen. Vorsichtig erreichte er die Wand, tastete nach dem Fenster und stieà den Holzladen auf. Der Blick von hier oben war überwältigend: Direkt gegenüber lag der Dom mit seinem langen Schiff und verschiedenartig geformten Türmen. Ein Teil der AuÃenmauern war eingerüstet für Ausbesserungsarbeiten.
Der Dom gehörte zu einem weitläufigen Gebäudekomplex; Wulf hatte sich ein wenig umgeschaut und umgehört und konnte daher die einzelnen Bauteile gut zuordnen, die zum Teil nur als dunkle Schatten zu sehen, teilweise aber auch beleuchtet waren. An den mit der Kathedrale verbundenen Kreuzgang schlossen sich die Stiftsgebäude, Domschule, Domkellerei und Domspeicher an. Dieses Ensemble grenzte an die innere Stadtmauer. Von Wulf aus gesehen links vom Dom befand sich die Pfarrkirche St. Johannes mit einem Friedhof. Die Residenz des Bischofs, der sogenannte Bischofshof, schloss sich an der gegenüberliegenden, rechten Seite an den Dom an.
Der Bischofshof setzte sich aus drei Gebäuden zusammen: der Aula Minor, dem Hoftor und der Aula Major. Besonders Letztere interessierte Wulf, denn er hatte in Erfahrung gebracht, dass Luther im dortigen Festsaal verhört werden
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