Die Lutherverschwörung - historischer Roman
nicht, was. Hinter einem Seitenaltar lag etwas Dunkles. Er hob es auf und hielt ein langes, schwarzes Kleid in Händen. Was für eine unheimliche Bewandtnis hatte es mit der Frau, die es getragen hatte? Er bekam eine Gänsehaut.
Ein Schatten fiel auf den Gang, er kam aus einem Erker; dort, mitten in einem Rechteck aus grauem Licht, zeichneten sich schemenhaft die Umrisse von Locken ab und ein Rock, wie ihn kleine Mädchen tragen. Erleichtert ging er darauf zu und schaute in den Erker; dort stand im Dunkeln das Kind. Er breitete die Arme aus und trat näher, aber es war kein Mädchen, sondern ein sehr klein gewachsener Mann, der ein Messer in der Hand hielt. Die Klinge war auf Jost gerichtet â¦
Jost erwachte früh und dachte einmal mehr über den Mann nach, der Martha entführt hatte. Er versuchte aus dem, was Anna, Hanna, Cranach und die Wirtin ihm erzählt hatten, ein Bild zu gewinnen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Vielmehr schienen sich ihre Aussagen zu widersprechen. Weshalb wollte der falsche Pilger Luther töten? War der Mann ein Einzelgänger, ein streng religiöser Mensch, der an Luthers revolutionären Lehren Anstoà nahm? Oder handelte er im Auftrag von Bischof Brangenberg, wofür es ja Hinweise gab? Cranach hatte fast wohlwollend über Wulf Kramer gesprochen, beschrieb ihn als gebildeten Mann und Kunstliebhaber; er habe mit ihm längere Gespräche geführt, das sei ein kluger Kopf, besonders Kramers Frömmigkeit habe ihn beeindruckt. Diese müsse echt und aufrichtig sein, denn er stehe auf vertrautem Fuà mit den Erzählungen der Bibel, habe wiederholt aus der Heiligen Schrift zitiert, einen Psalm sogar auswendig vorgetragen, das sei keine Schauspielerei gewesen; auch verehre Kramer die Heiligen.
Ein ganz anderes Bild ergab sich aus Hannas Schilderungen, die sich selten täuschte, wenn es um den Charakter ihrer Kunden ging. Er habe nichts AuÃergewöhnliches verlangt, nein, daran liege es nicht, ihr Unbehagen habe mit seiner Ausstrahlung zu tun. »Von ihm ging etwas Bedrohliches aus: eine Aura des Todes!« Früher schon hatte sie Kramer als geistig krank bezeichnet. Das passte so gar nicht zu Cranachs Wahrnehmung und zu dem, was die Wirtin über ihren Gast berichtet hatte. Jost fragte sich, wie derselbe Mensch so gegensätzliche Eindrücke hinterlassen konnte. Wulf Kramer zeigte kein Gesicht, weil er es ständig wechselte.
Und plötzlich erinnerte sich Jost wieder an seinen Traum â¦
K APITEL 25
Wulf fühlte sich beobachtet, obwohl es Nacht war. Aber die Schwarze Jungfrau würde ihn schützen, schon mehr als einmal hatte sie ihn aus höchster Not befreit. Ihn und die Jungfrau verband ein Geheimnis, das so süÃ, kostbar und herrlich war, dass er es verschlossen in seinem Herzen trug. Sie hatte ihn in jener Nacht in Wittenberg gerettet und später in dem Sturm.
Nun war er endlich in Worms angekommen â und musste doppelt aufmerksam und vorsichtig sein. Er bat die Schwarze Jungfrau um ihren Beistand; schwarz nannte er sie wegen der Kleider, die sie trug. Ihren Namen kannte er nicht, er wusste nur, dass sie nicht Maria war ⦠auch ihr Gesicht hatte er nie gesehen, höchstens einmal blitzartig und schemenhaft; es wäre Sünde gewesen, ihr Gesicht zu kennen.
Wulf wusste, dass die Gegenseite gewarnt war, man würde Ausschau halten nach einem ungewöhnlich kleinen Mann, also durfte er sich so wenig wie möglich in der Ãffentlichkeit zeigen. Andererseits waren die Gassen voller Menschen während des Reichstages, sogar nachts: Spielleute und Schausteller waren unterwegs, Bären, Akrobaten, Feuerschlucker, Riesen und Zwerge. Da fiel man nicht so leicht auf. Um sich der Ãffentlichkeit zu entziehen, brauchte er dringend ein Quartier, zumindest ein vorläufiges. Während er suchend umherlief, verfolgte er die Gespräche der Menschen aufmerksam und erfuhr, dass man bald den gröÃenwahnsinnigen Mönch im bischöflichen Palais verhören würde; viele erwarteten seine Hinrichtung. Aber er würde ihnen zuvorkommen, denn er handelte in göttlichem Auftrag.
Mit dem groÃen Reisesack über der Schulter, den er bei Johannas Sachen gefunden hatte, schlenderte Wulf am bischöflichen Palais vorbei und fasste die gegenüberliegenden Häuser scharf ins Auge; die meisten hatten zwei Stockwerke. Während er die Fassaden und die Fenster betrachtete, keimte in seinem
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