Die Lutherverschwörung
Flusslandschaften nicht wirklich genießen, und während er vorhin über die Brücke gelaufen war, hatte er sich sogar schwindlig gefühlt. Wulf wandte sich nach rechts und folgte einem schmalen Pfad.
Ihm wurde bewusst, dass ihm während seiner Reise nach Worms zweimal Zweifel gekommen waren an dem, was er vorhatte: zunächst bei seinem Bruder, der eine Familie gegründet hatte und ein unauffälliges, aber zufriedenes Dasein führte; dann bei Johanna, die vom Zoll und der Gastwirtschaft lebte und ihn gerettet hatte. Die Vorstellung, bei ihr zu bleiben und sich von ihr bemuttern zu lassen, war geradezu verlockend erschienen … Aber er hatte diese Schwäche überwunden.
Wulf näherte sich dem Ende der kleinen Insel. Hier gab es keine Häuser mehr, nur Bäume, Sträucher und Büsche; im feuchten Gras blühte es gelb und weiß, Pappeln und Weiden säumten das Ufer, in denen Vögel ihre Nester bauten. Er beobachtete Buchfinken, Meisen, Bachstelzen und Amseln und hörte ihrem Gesang zu. Auch ausgefallene Arten, die er nicht kannte, fielen ihm auf. Die Insel schien ein wahres Vogelparadies zu sein. Vor lauter Staunen vergaß er fast den Grund, weshalb er gekommen war. Wulf liebte die Natur und fürchtete sie zugleich, aber seine wenigen glücklichen Momente verdankte er ihr. Wenn die Natur einem Schmerzen zufügte, geschah es nicht aus Bosheit – bei Menschen war das anders.
Wulf kam zu dem kleinen Feld, das er von seinem Speicherfenster aus bemerkt hatte. Auf frisch bearbeitetem Boden entdeckte er Tauben, die Samenkörner aufpickten und dabei gurrten. Der Geruch von frischer Erde vermischte sich mit dem des Flusses. Was er kurzzeitig für einen Menschen gehalten hatte, entpuppte sich als eine Vogelscheuche am Rand des Feldes: ein in den Boden gerammter Pfosten mit einer schmaleren Querlatte, auf der eine blaue, zerlumpte Arbeitsjacke hing und im Wind flatterte. Am oberen Ende des Pfostens hatte man mit Hilfe von Stroh und Schnüren einen menschlichen Kopf nachgeformt.
Was wollte er mehr? Wulf nahm den Sack von der Schulter, öffnete ihn, holte seine Waffe hervor und befreite sie von der Stoffumhüllung. Er legte den Sack auf das Gras und breitete die Armbrust und das übrige Zubehör darauf aus, dann nahm er die Waffe auf und betrachtete im hellen Tageslicht, was er bisher nur im Fackelschein und Dämmerlicht gesehen hatte.
Die modernen Armbrüste besaßen häufig einen stählernen Bogen, der als leistungsfähiger galt. Wulf hielt nicht viel davon, man musste nicht immer sein Fähnchen in den Wind hängen, denn der wehte morgen schon wieder aus einer anderen Richtung. Der stählerne Bogen besaß gewisse Vorteile, er war weniger witterungsanfällig. Für eine Bürgerwehr, die ihre Waffen lange lagerte, war das in Ordnung – aber für seine Zwecke vertraute er dem Hornbogen. Bärenreiter hatte fast ausschließlich Armbrüste mit stählernen Bogen verfertigt, aber zum Glück hatte Wulf noch einen Hornbogen in seinem Vorrat gefunden und ihn mit den anderen Fertigteilen kombiniert.
Wulf hielt die Armbrust mit beiden Händen an der Mittelsäule und prüfte sein eigenes Werk kritischer, als irgendein anderer das hätte tun können. Er fuhr mit Daumen und Zeigefinger über die straffe, aber noch nicht gespannte Hanfsehne, die dort, wo sie die Mittelsäule berührte, nochmals verstärkt war. Probeweise klappte er die Visiervorrichtung hoch, in die verschiedene Sehschlitze eingelassen waren: die sogenannte Kimme. Am Ende der Säule befand sich die Zielgabel, die auch Schiff hieß, mit dem Korn. Wulf schulterte die Waffe probeweise, dann setzte er sie wieder ab und legte sie zu Boden.
Aus einem speziellen Köcher zog er verschiedene Bolzen hervor, die aus Holz gefertigt waren. Zu Übungszwecken würde er zunächst Bolzen ohne eiserne Spitze verwenden; sie besaßen Lederstabilisatoren, um die Treffsicherheit zu erhöhen. In diesem Fall war Wulf mit dem Material von Bärenreiter nicht zufrieden gewesen und hatte Verbesserungen vorgenommen. Neben die Übungsbolzen legte er einen einzigen, der eine Stahlspitze mit Widerhaken besaß: Mit einem solchen würde er Luther töten.
Wulf nahm die Armbrust wieder auf, um sie zu spannen; hierfür hatte er eine Metallwinde mitgebracht, die mit einer Zahnstange arbeitete und mit zwei Haken die Sehne fasste. Er stellte seinen linken Fuß in einen Bügel, der als Spannhilfe diente. Mit beiden Händen, den Oberkörper nach vorn gebeugt, drehte er die Kurbeln, sodass die Sehne sich spannte,
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