Die Macht der Angst (German Edition)
mir!«
»Schon gut! Ganz ruhig! Du tickst ja völlig aus.« Dann rief er über seine Schulter: »He, Cindy! Du hast doch die Fade-Shadowseeker-Bücher mitgebracht, oder?«
»Eine Sekunde, bin gleich da«, zwitscherte Cindy.
Mit wippenden Haaren kam sie ins Zimmer getänzelt, ihre perfekte, zierliche Figur von tief sitzenden Jeans und einem T-Shirt umschmiegt, das so lange zu heiß gewaschen worden war, bis es zwei Nummern zu klein war. Sie kramte ein Buch aus ihrer Tasche. »Das ist der dritte Band,
Orakel der Nacht
. Es ist echt – he!«
Sean riss es ihr aus den Fingern, drückte Miles sein Bier in die freie Hand und schlug das Buch auf. Der Abgrund in seinem Inneren wurde tiefer und weitete sich zu tosender Leere. Er hörte Stimmen um sich herum, die diskutierten, die Fragen stellten und seinen Namen wiederholten. Sean ignorierte sie. Er stand unter Schock.
Es war Kev, wie Sean ihn in seiner Vision gesehen hatte, während Osterman das X-Cog-Interface durchführte. Er sah es klar und deutlich in den vermeintlich simplen, fließend gezeichneten Bildern: die subtilen Unterschiede zwischen Kevs Gesicht und seinem eigenen. Mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Mehr eine unterschwellige Wahrnehmung.
»Er ist es«, stellte er fest und unterbrach damit denjenigen, der gerade gesprochen hatte. »Es ist Kev.«
Die kleine Gruppe verfiel in Schweigen; besorgte Blicke wurden ausgetauscht.
»Sean«, sagte Tam in diesem vorsichtigen Ton, der in ihm das Verlangen weckte, die Hände um ihre Kehle zu schließen und zuzudrücken. »Es ist nur ein Comic-Roman.«
»Lieber Himmel!« Miles riss seine braunen Augen auf. »An Kev habe ich überhaupt nie gedacht. Ich fand einfach nur, dass er aussieht wie du.«
»Die Narben.« Seans Blick zuckte von Tam zu Miles und zu Cindy. »Ich habe sie gesehen. Es sind exakt dieselben.«
»Wovon sprichst du?« Die tiefe, missbilligende Stimme gehörte Davy, der über Cindys Schulter spähte. »Was ist los? Soll ich die Steaks auf den Grill werfen, oder stecken wir gerade in einer Krise?«
»Warte lieber noch mit den Steaks«, riet Tam ihm.
Davy taxierte seine Brüder mit gerunzelten Brauen. »Worum geht es? Von welchen Narben sprecht ihr?«
»Kevs Narben. Ich habe sie gesehen.« Sean war bewusst, wie verrückt das klang, dass er es umformulieren und genauer erklären musste, damit sie nicht ausflippten. Allerdings zog das einen lauten, verwirrenden Wortwechsel nach sich, während Davy in die Entdeckung der Comic-Romane eingeweiht wurde. Anschließend stieß Connor zu ihnen, und sie wiederholten das ganze Spiel. Dann kam Erin, dann Margot, und so ging es immer weiter.
Minuten später hockte Sean auf dem Sofa im Wohnzimmer, umringt von den anderen, sodass er sich ein bisschen wie auf einer Anklagebank fühlte. Die Fade-Shadowseeker-Bücher lagen auf dem Couchtisch. Er konnte nicht aufhören, sie anzustarren.
»Also, jetzt noch mal von vorn«, eröffnete Davy mit tragender Stimme das Verfahren. »Du hast was gesehen? Und wann genau?«
»Es ist zwei Mal vorgekommen«, erklärte Sean erschöpft. »In meinen Träumen, so könnte man es vermutlich nennen, aber vielleicht waren es eher Visionen, nachdem ich dabei nicht schlief. Das erste Mal war, als Osterman das X-Cog-Interface durchführte. Ich dachte nicht … na ja, ich habe auch Mom gesehen, und Dad. Sie sprachen mit mir, wollten mir helfen, darum dachte ich, Kev wäre einfach nur ein weiteres Gespenst in meinem Kopf. Aber er war nicht so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er war in meinem Alter, hatte kurz geschorenes Haar. Er ließ einen Drachen steigen. Und er hatte Narben. Exakt wie diese hier.« Sean zeigte auf die Bücher.
»Und das zweite Mal?«, wollte Connor wissen.
»Das war auf diesem Berg, als ich beim Klettern war, nach meiner Entlassung aus der Klinik. Ich war kurz davor, im Nebel von einer Klippe zu stürzen, aber Kev stoppte mich. Er hat mir ordentlich den Marsch geblasen. Da hatte er auch schon diese Narben.«
Connor ließ den Kopf in die Hände sinken. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
Sean starrte auf seine geballten Fäuste. »Ich weiß, dass euch dieser übersinnliche Kram gegen den Strich geht«, sagte er mit rauer Stimme. »Aber könnt ihr euch mir zuliebe nicht dieses eine Mal darauf einlassen? Ich flehe euch an.«
Liv kam zu ihm, die Hände auf ihre Babykugel gelegt, zwängte sich am Couchtisch vorbei und setzte sich neben ihn. Sie griff sich eins der Bücher und musterte es nachdenklich. »Ich bin zu einem
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