Die Macht der Angst (German Edition)
niemand sie beobachtete, bevor sie mit einem Anflug von Scham dem Impuls nachgab und in dem kleinsten ihrer Skizzenbücher bis zu einer Seite blätterte, auf der noch Platz war. Der Diskretion halber ließ sie die Haare vors Gesicht fallen, dann nahm sie ihre Observierung der anderen Gäste wieder auf. Ihr Blick wurde weich, als sie winzigste Details registrierte, die ihr Bewusstsein nicht für wichtig genug erachtete, um sie zu bemerken. Das Ganze konnte ihr Ärger einbringen, das wusste sie, trotzdem erlag sie der Versuchung. Wann immer sie Menschen beobachtete, juckte es sie in den Fingern, ihren Füller oder Bleistift zur Hand zu nehmen. Sie wusste, dass sie dafür einen Preis würde zahlen müssen, doch es gab einen Teil in ihr, dem das völlig schnuppe war. Und dieser Teil siegte immer.
Eine Besessenheit hatten ihre Eltern es genannt. Na, und wennschon. Wen kümmerte es?
Edies Augen verharrten auf einem Mann an der rückwärtigen Wand des Restaurants, der mit seinen über seine Halbglatze drapierten Haaren, der geröteten Nase und den Tränensäcken an die Hauptfigur aus
Tod eines Handlungsreisenden
erinnerte. Mit grimmiger Entschlossenheit machte er sich über sein Rib-Eye-Steak samt Ofenkartoffel her. Edie skizzierte ihn mit wenigen hastigen Bleistiftstrichen, dann unternahm sie einen weiteren Anlauf, um seine angespannte Schulterpartie und seinen deprimierten Gesichtsausdruck einzufangen.
Und wie immer geschah das Unerklärliche. Ihr Hirn schaltete in einen anderen Modus. Es fühlte sich an, als öffnete sich tief in ihrem Inneren ein Auge, das alles intensiver und klarer sah. Die Peripherie außerhalb ihres zentralen Fokus verschwamm. Ihre Wahrnehmung weitete sich aus, wurde aufnahmebereiter und schärfer. Edies Füller glitt wie von selbst über das Papier. Die Zeit stand still. Gott, wie sehr sie dieses Gefühl liebte.
Die Geräusche im Restaurant schienen zu verstummen, als sie anhand der geplatzten Äderchen auf seiner Nase, seines verbitterten Mundes und seiner herabhängenden Wangen den dumpfen Zorn, die Aggression, den tiefen Kummer des Mannes entlarvte.
Er vermied es, nach Hause zu gehen. Er benutzte seine Arbeit als Ausrede, um sich so weit wie möglich von dem Enkelsohn, den er und seine Frau aufzogen, fernzuhalten. Das Kind war gewalttätig und hyperaktiv, es litt an einer Lernschwäche und an einem Aufmerksamkeitsdefizit. Seine Frau war erschöpft, verzweifelt, ratlos. Und sehr wütend auf ihn, weil er ihr die Verantwortung allein überließ.
Er flüchtete täglich aufs Neue vor dieser Situation, so wie er auch vor ähnlichen Problemen mit der Mutter des Jungen geflüchtet war, seiner promiskuitiven, drogenabhängigen Tochter. Er fühlte sich hundeelend deswegen, schaffte es jedoch nicht, sich zu ändern. Ihm fehlte die Kraft.
Oh Gott, wie furchtbar deprimierend. Edie löste den Blick von dem glücklosen Mann und starrte hinaus zu den Straßenlichtern, um sein schlechtes Gewissen und seinen bitteren Selbsthass aus ihrem System zu bekommen.
Wenn sie sich in diesen Teil ihres Bewusstseins begab, schnappte sie Dinge über den Äther auf. Dinge, die die Menschen aussendeten. Und es gab keine Möglichkeit, sie abzublocken, egal, wie sehr Edie sich anstrengte.
Sie schaute sich nach einer anderen Person um, mit der sie mental auf Tuchfühlung gehen konnte. Nach jemandem mit mehr Optimismus, mehr Hoffnung. So wie das süße Pärchen, das auf der anderen Seite des Gangs saß.
Ja, die beiden wirkten vielversprechend. Er sah auf eine steife, wohlhabende Art gut aus. Sie war sehr niedlich. Edie skizzierte sie, dann verwischte sie die Tinte mit dem Finger, in dem Versuch, dieses Strahlen, die Schatten und Lichter, diesen unfokussierten, verschwommenen Blick neuer Perspektiven einzufangen …
oh
Gott
.
Das Mädchen war
schwanger
. Erst ein paar Wochen, und es war noch immer ein Geheimnis. Ihr Partner ahnte nichts. Sie wollte es ihm heute Abend sagen. Sie war nervös und lächelte, bis ihr der Mund davon wehtat, aber der Mann reagierte nicht auf ihr Lächeln. Er schien mit den Gedanken woanders zu sein.
Edie zeichnete die strenge Kontur seiner römischen Nase, seinen verschlossenen, dünnlippigen Mund. Seine tief liegenden, durchdringenden Augen, in denen ein Ausdruck von Ungeduld stand. Energie staute sich in ihm auf. Ein Sturm war im Anzug. Er hatte vor, eine Rede zu schwingen, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen und sie mit ein paar hieb- und stichfesten Argumenten zu untermauern. Er würde
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