Die Macht der Angst (German Edition)
sich arrogant und herablassend geben. Er dachte nur an sich selbst, an seine Freiheit, seine Zukunft, seine eigenen Interessen. Sie beherrschten sein Denken so vollständig, dass er das Mädchen nicht wirklich wahrnahm. Ihre Schönheit. Ihre Hoffnung. Den Klippenrand, an dem sie balancierte. Er war gelangweilt von ihrer welpenhaften Anhänglichkeit, fühlte sich erstickt. Gleichzeitig fragte er sich, ob er nicht etwas Besseres finden könnte. Eine Frau, die mehr Sexappeal hatte, die interessanter und gebildeter war. Klüger. Reicher.
Er würde seiner Freundin jeden Moment sagen, dass er fand, sie sollten sich noch nicht festlegen, sondern auch mit anderen ausgehen
. Edies Füller geriet ins Stocken und ritzte ein Loch ins Papier.
Vielleicht projizierte sie nur ihre eigenen leidvollen Erfahrungen auf ihn und steckte den Mann zu Unrecht in eine Schublade mit Eric – einem ihrer Verflossenen, der die gleiche verachtungsvolle Miene zur Schau getragen hatte, als er die gleiche Bombe hatte platzen lassen. Nein, wohl eher nicht. In diesen Dingen irrte sie nie. Selbst dann nicht, wenn sie es sich verzweifelt wünschte.
Mist
. Edie steckte die Kappe auf ihren Füller und legte ihn auf das Skizzenbuch. Sie verschränkte die tintenfleckigen Finger und fixierte die Augen auf ihr Weinglas. Sie sollte sich an Pferdeschädel und ausgestopfte Vögel halten. Lebende Menschen zu zeichnen war zu riskant.
Darum nahm sie normalerweise Zuflucht zu der besten Alternative, nämlich fiktionalen Charakteren. Sie konnte sie zeichnen, eine intensive Kenntnis ihres Innenlebens haben und das Ganze Kreativität anstatt wahnhafte Schizophrenie nennen. Oder, je nach Stimmungslage, obszönes Eindringen in fremde Privatsphären.
Sie wollte das nicht, wollte das niemandem antun. Es war etwas, das ihr seit ihrem vierzehnten Lebensjahr einfach passierte. Genauer gesagt, seit der Oase und Dr. Ostermans bewusstseinserweiternden Techniken.
Und es hatte eine Erweiterung stattgefunden. Eine, die sie fast in die Klapsmühle befördert hätte.
Doch darüber zu brüten, brachte nichts. Edie fertigte ein paar rasche Skizzen von Fade Shadowseeker an, dem Protagonisten ihres illustrierten Romans. Sie versuchte, die richtige Pose für Fade zu finden, als dieser im fünften Teil der Shadowseeker-Reihe dem verbrecherischen Menschenhändler ein Messer an die Kehle drückte, um zu erfahren, wo er die Mädchen gefangen hielt, unter denen sich auch seine große Liebe Mahlia befand. Sein Gesicht war eine starre Maske der Furcht.
Fade zu zeichnen, erinnerte sie an die Diskussion, die sie an diesem Nachmittag mit Jamal geführt hatte, während der Junge alles in sich reingestopft hatte, was ihr Kühlschrank hergab. Jamal war der achtjährige Sohn einer Nachbarin und ein guter Kumpel. Er schlief auf Edies Couch, wann immer seine Mutter in ihrer Zweizimmerwohnung ein Stockwerk höher gerade einem Kunden zu Diensten war. Was ziemlich häufig vorkam.
Anlass des Disputs war Jamals Problem gewesen, zwischen Fantasie und Realität zu unterscheiden. Er beharrte darauf, dass Fade Shadowseeker wirklich existierte und man ihm auf den Straßen ihres Stadtviertels begegnen konnte. Jamal behauptete, Leute zu kennen, die Fade mit eigenen Augen gesehen hatten, und andere, die von ihm gerettet worden waren. Er wollte von Obdachlosenheimen wissen, denen Fade haufenweise Geld geschenkt hatte, das er zwielichtigen Ganoven abgeknöpft hatte – natürlich erst, nachdem er ihnen eine gehörige Abreibung verpasst hatte. Der Junge hatte seinen Fade-Roman verschiedenen Leuten gezeigt, die den Mann angeblich gesehen haben wollten. Ihnen zufolge handelte es sich um ein und dieselbe Person – eine Person aus Fleisch und Blut.
Herrje, was hatte sie da bloß angerichtet? Die Sache verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen. Edie war diejenige, die Fade erschaffen und ihn in Jamals Kopf gepflanzt hatte, deshalb war das Problem des Jungen zum Teil ihr eigenes. Und es tat ihr in der Seele weh, wie dringend der Kleine eine Fluchtmöglichkeit aus der Realität zu brauchen schien. Das war nicht richtig. Das wahre Leben sollte nicht so trostlos sein, dass das Kind ihm um jeden Preis zu entkommen versuchte. Aber es schien ihr heuchlerisch, ihn deswegen zu rügen. Immerhin zählte die Flucht in die Fiktion auch zu Edies bewährten Bewältigungsmechanismen. Und dieser Fluchtweg war besser als die meisten anderen. Besser zumindest als Drogen, so viel stand fest.
Trotzdem machte es ihr Angst, wenn
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