Die Macht der Angst (German Edition)
Jamals Fantasien in die Grauzone echter Wahnhaftigkeit abdrifteten. Seine Mutter war zu sehr mit ihren Freiern und ihrer Drogensucht beschäftigt, um sich mit dem Problem zu befassen, darum grübelte Edie voller Unbehagen, ob sie sich selbst mit Jamals Jugendamtsbetreuer oder seinem Schulpsychologen in Verbindung setzen sollte. Irgendjemand musste davon erfahren. Nur wer?
Sie erspähte ihren Vater, der gerade durch die Tür trat. Der Platzanweiser zeigte Charles Parrish, wo Edie saß. Sie sprang auf und winkte ihm lächelnd zu.
Ihr Vater nickte knapp, dann gab er ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, sich zu setzen. Sein missbilligendes Lächeln besagte:
Versuche doch bitte, dich nicht zu blamieren
.
Sie sank wieder auf ihren Stuhl und bemühte sich, gesittet zu wirken. Das versuchte sie schon, seit sie zu sprechen gelernt hatte. Allerdings hatten mit dem Sprechenlernen auch die Probleme begonnen.
Sie verdrängte diesen unsinnigen Gedanken, während ihr Vater auf sie zukam. Ihre Wangen juckten vor Anspannung. Immerhin gaben sie beide sich Mühe, und das war doch zumindest ein Anfang. Beleidigt zu schmollen würde ihr nicht dabei helfen, Ronnie wiederzusehen. Sie würde sich am Riemen reißen. Sich brav, sanftmütig, normal und natürlich geben. Ihm beweisen, dass sie keine Medikamente benötigte.
Edie stand auf, als er den Tisch erreichte, und sie begrüßten sich mit dieser hölzernen, ungelenken Wangenkuss-Halbumarmung. Wie immer stimmte ihr Timing nicht überein, sodass Brillen in Schräglage gerieten, Wangenknochen kollidierten, die falsche Seite angepeilt wurde und der Kuss auf dem Kinn oder dem Ohr landete. Gestammelte, nervöse Entschuldigungen rundeten das peinliche Szenario ab.
Dann endlich saßen sie einander in sicherem Abstand am Tisch gegenüber und suchten beide krampfhaft nach einem Durchlass in der Marmorwand, die zwischen ihnen aufragte.
Charles Parrish registrierte den Stapel Skizzenbücher und die auf der tintenfleckigen Tischdecke verstreuten Stifte. Edies geschwärzte Fingerspitzen. Sie bezwang den Drang, eine Entschuldigung zu murmeln und die Stifte hastig einzusammeln. Nein, das würde sie nicht tun. Sie war neunundzwanzig, eine erwachsene Frau und eine erfolgreiche, angesehene Künstlerin. Kein ungezogenes Kind, das sich danebenbenommen hatte.
Als der Kellner an ihren Tisch trat, um ihnen Wasser zu bringen und ihre Bestellung aufzunehmen, verschaffte ihnen das ein paar Minuten willkommener Ablenkung, doch dann waren sie wieder allein und guckten einander an. Verlegen.
Ihr Vater gestikulierte unwirsch zu den Skizzenbüchern. »Du hast viel zu tun?«
»Ja, wie immer. Ich bin gut im Geschäft.« Edie wartete darauf, dass er sich nach weiteren Details erkundigte. Vergebens.
»Ist das so?«, murmelte er vage.
Die Ablehnung in seiner Stimme erstickte ihr Bedürfnis, den Stapel Rezensionen über ihren jüngsten Comic-Roman hervorzuholen, die sie extra für ihn ausgedruckt hatte. In ihnen fanden sich Adjektive wie »bahnbrechend« und »genre-definierend«. Sie titulierten sie, die unbeholfene, schüchterne Edie Parrish, als »eine der frischesten neuen Stimmen einer desillusionierten, aber halsstarrig hoffnungsvollen Generation«. Es wurden Phrasen gedroschen wie »immens kraftvoll« oder »voller Pathos und tief empfundener Sehnsucht«.
Aber Charles Parrish wollte davon nichts wissen. Das Pathos wie auch die tief empfundene Sehnsucht seiner ältesten Tochter hatten ihm Zeit ihres Lebens Anlass zur Beschämung gegeben. Edie zerknüllte die Ausdrucke in der Tasche ihres Longpullis und suchte nach einem anderen Gesprächsthema. »Weißt du, ich halte diesen Samstag eine Signierstunde ab«, wagte sie den Vorstoß. »Bei
Powell’s
. Um neunzehn Uhr.«
»Nun, das freut mich«, kommentierte er kühl.
»Im Rahmen der Veröffentlichung meines neuen Comic-Romans«, haspelte sie weiter. »Die Fade-Shadowseeker-Reihe. Es ist schon der vierte Teil. Die Bücher finden reißenden Absatz. Diese Veranstaltung ist eine ziemlich große Sache. Darum habe ich mich gefragt …« Sie knüllte die Rezensionen in den Fäusten. Dann sollte er ihr eben eine Abfuhr erteilen, und zwar mitten ins Gesicht, »… ob du und Ronnie kommen könntet«, brachte sie den Satz atemlos zu Ende.
Die Augenlider ihres Vaters zuckten. »Fade Shadowseeker?«, echote er. »Du meinst diese Figur, die auf dem grauenvollen Zwischenfall, der deine gesamte Kindheit zerstört hat, basiert?«
Edie legte die Hände um ihr Weinglas
Weitere Kostenlose Bücher