Die Macht der Angst (German Edition)
und starrte auf die Flüssigkeit, die darin umherschwappte. »Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass er meine gesamte Kindheit zerstört hat«, widersprach sie leise. »Aber, um deine Frage zu beantworten, ja, um diese Figur dreht es sich.«
»Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber da bin ich anderer Ansicht. Außerdem finde ich es recht ironisch, dass du mich tatsächlich einlädst, zu deiner Signierstunde zu kommen, um deine krankhafte Obsession auch noch zu
zelebrieren
. Ganz zu schweigen von deinem Ansinnen, dass ich deine dreizehnjährige Schwester Zeugin davon werden lasse! Was geht bloß in deinem Kopf vor, Edith? Mich um so etwas zu bitten. Das ist infam.«
Edies Wangen begannen zu brennen. »Nein, du siehst das falsch, Dad.«
»Ich verstehe, dass du deine Gefühle durch das Zeichnen verarbeitest, und ich weiß deine Bemühungen durchaus zu schätzen, aber inzwischen ist das Ganze zu mehr als einem therapeutischen Hilfsmittel ausgeartet, es ist … es ist –«
»Er ist nur ein fiktionaler Charakter, Dad«, erklärte sie mit freundlicher, aber resignierter Stimme.
Es trat unbehagliches Schweigen ein, während beide krampfhaft nach einem Weg aus dieser Gefahrenzone suchten. Ihr Vater hatte bis zu einem gewissen Punkt sogar recht. Der Vorfall, der sie zu Fade Shadowseeker inspiriert hatte, war tatsächlich traumatisch gewesen.
Edie erinnerte sich noch heute an jedes Detail. Es hatte sich vor achtzehn Jahren, an ihrem elften Geburtstag, zugetragen. Ihre Mutter hatte eine große Party im Country Club organisiert. Edie hatten vor Angst die Knie geschlottert. Man hatte ihre Haare zu einer Million alberner Löckchen eingedreht, ihr einen Kranz aus weißen Rosen, Schleierkraut und Spitzenbändern aufgesetzt und sie in ein weißes Rüschenkleid mit einem kratzigen Spitzenkragen gesteckt. Sie hatten einen Zwischenstopp im Büro ihres Vaters bei Flaxon eingelegt, damit er ihr einen Kuss geben und ihr sein Geschenk persönlich überreichen konnte, weil er es nicht zu der Party schaffen würde. Er hatte ihr ein rosarotes Fahrrad gekauft. Es war mit rosaroten Seidenschleifen geschmückt. Am Lenker waren rosarote Heliumballons befestigt.
Ein Mann war in das Büro ihres Vaters gestürmt, bevor jemand ihn stoppen konnte. Er war grauenvoll entstellt gewesen: sein Gesicht von Brandblasen bedeckt, seine Haare versengt. Seine Hände schwarz und geschwollen, sein Körper von blutenden Schnittwunden übersät. Er hatte etwas von Folter gefaselt. Von Bewusstseinsvergewaltigung. Von Kindern, die in eine Grube geworfen wurden. Und er hatte darum gefleht, dass jemand diesem Gräuel ein Ende bereitete.
Ihre Mutter hatte nach dem Sicherheitsdienst geschrien und behauptet, dass der Mann Charles umbringen wollte, woraufhin das Zimmer gestürmt worden war. Der dumpfe Aufschlag, als der Verwundete einen der Bodyguards durch das Fenster und mehrere Meter in die Tiefe gestoßen hatte, hallte noch immer in Edies Kopf wider.
Weiteres Sicherheitspersonal war angerückt. Der Kampf hatte sich eine ganze Weile hingezogen. Der junge Mann war stark wie ein Stier gewesen und der Lärmpegel grauenvoll, allerdings hatte Edie kaum etwas sehen können. Ihre Mutter hatte ununterbrochen gekreischt.
Schließlich hatten sie ihn überwältigt. Es waren fünf Männer nötig gewesen, um ihn aus dem Büro zu schleifen. Als sie den Jungen, der noch immer heftig Widerstand leistete, an ihr vorbeizerrten, hatten seine Augen Edie fixiert. Sie waren hellgrün gewesen und erfüllt von einem flackernden Licht der Verzweiflung, das aus seinem tiefsten Inneren zu kommen schien. Edie sah seine Augen bis heute in ihren Träumen.
Er hatte sich gewunden und sich den Hals verrenkt, um weiter Blickkontakt mit ihr zu halten, während sie ihn abführten. Er hatte sie um Hilfe angefleht. Seine abgrundtiefe Verzweiflung ließ sie auch jetzt, achtzehn Jahre später, noch nicht los.
Wann immer sie Fade Shadowseeker, den narbenübersäten Helden ihrer Comic-Romanserie zeichnete, versuchte sie, diesen speziellen Moment wiederzugeben. Trotz aller Bemühungen gelang es ihr nicht einmal annähernd. Doch sie würde nicht aufgeben.
Nachdem sie den Jungen weggebracht hatten, hatte Edie auf ihr Rüschenkleid hinabgeblickt. Es war von winzigen Blutstropfen besprenkelt gewesen.
Ja, das war eine traumatische Erfahrung. Wenn auch nicht vergleichbar damit, Eltern zu haben, die einem die meiste Zeit des Lebens jede Anerkennung vorenthielten. Dieses Trauma schlug die
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