Die Macht der Angst (German Edition)
Kerle in weißen Arztkitteln würde ich mich eher ertränken, als diesen sabbernden Hund in deine Nähe zu lassen. Jetzt beeil dich, Edie. Wir sollten nicht an dieser Bergflanke stehen, wenn der Nebel heraufzieht.«
Sein brüsker Ton ärgerte sie, aber sie hatte zu sehr damit zu kämpfen, ihm zu folgen, als dass sie sich hätte beschweren können. Endlich tauchte zu ihrer Erleichterung die Hütte mit dem rauchenden Schornstein unter ihnen auf.
Drinnen angekommen, verhielt Kev sich noch immer verschlossen und still, obwohl es in der Hütte behaglich warm war und das Feuer im Kanonenofen knisterte. Er riss die Ofentür auf und stocherte in den Flammen, während Edie sich aus ihrem Zwiebel-Look schälte und ihre tauben Fingerspitzen massierte. Sie war an diese angespannte Atmosphäre gewöhnt, in der sie wie auf Samtpfoten umhertapste und sich nicht zu sprechen traute. Sie hatte ihre gesamte Kindheit auf diese Weise verbracht. Aber von ihrem Geliebten würde sie dieses Verhalten nicht tolerieren.
»Warum bist du so wütend?«, fragte sie in flachem Tonfall. »Was habe ich getan?«
Kev schwieg mehrere Sekunden. »Nichts. Es tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck erwecke.« Seine Stimme klang steif und förmlich. »Es ist nicht gegen dich gerichtet.«
»Ich bin die Einzige hier«, erwiderte sie. »Ich kann deine schlechte Laune körperlich fühlen. Hast du dich über Des geärgert?«
Kev winkte ab. »Nein, nicht über ihn. Er ist unbedeutend. Ich habe einfach nur …« Er brach ab, schluckte, schloss die Augen.
Edie wagte nicht zu atmen. »Was?«
»Angst.« Er presste das Wort heraus, als müsse er es über eine Barriere hinweghieven.
Edie seufzte erleichtert. Das war vertrautes Terrain. Angst konnte sie nachempfinden. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens in Angst verbracht. »Du wärst ein Dummkopf, wenn du keine hättest. Du hast dein halbes Leben verloren, deine Familie, alles, was du früher warst. Das ist entsetzlich.«
»Nein, das meine ich nicht. Ich fürchte mich nicht vor dem, was ich entdecken könnte. Ich fürchte mich vor dem, was passieren könnte, wenn die Erinnerung zurückkehrt. Denn wenn ich mich an etwas erinnere … ist es hässlich, Edie. Die reinsten Horrorszenarien.«
Der gehetzte Ausdruck in seinen Augen weckte in ihr das Bedürfnis, ihn zu umarmen, doch der Instinkt hielt sie davon ab. Er würde ihre Berührung nicht ertragen.
»Erzähl es mir«, forderte sie ihn sanft auf.
Kev starrte auf seine geballten Fäuste. »Als ich nach dem Unglück am Wasserfall aus dem Koma erwachte, fing ich an, mich zu erinnern. Dieser Mechanismus, den ich dir beschrieben habe … die Kopfverletzungen müssen ihn in Gang gesetzt haben. Dieser Schmerz, diese Angst, als die Bilder allmählich zurückkehrten … Gott, es war, als würde ich bei lebendigem Leib verbrennen. Ich wurde verrückt. Um ein Haar hätte ich einen unschuldigen Mann getötet. Als ich Ostermans Gesicht bei Facebook gepostet sah, platzte ein Blutgefäß in meinem Auge, und ich fiel in ein selbst verursachtes Koma. Anders kann ich es nicht beschreiben. Ich war wach und bei Bewusstsein, aber trotzdem wie gelähmt.«
»Das war dein Schutzmechanismus?«
»Ja. Ein Verlies in meinem Bewusstsein.« Er klang gepeinigt. »Es gab keinen Fluchtweg. Ich versteckte mich in mir selbst. So verängstigt war ich. Nur weil ich das Gesicht dieses Mannes auf einem verdammten Foto gesehen hatte. Diese Wirkung hatte es auf mich.«
»Du befürchtest, dass ein weiteres Auslösen deiner Erinnerung diesen Schalter von Neuem umlegen könnte?«
»Bruno hielt mich davon ab, Patil zu töten«, erklärte Kev. »Er brachte mich ein zweites Mal in die Notaufnahme. Aber sollte mich morgen der Drang überkommen, jemanden zu attackieren, wird zumindest nur dieser Schwanzlutscher Marr im Fadenkreuz stehen.«
Diese Aussicht schien Kev über Gebühr aufzumuntern, aber Edie war nicht in Stimmung, ihn deswegen zu rügen. »Warum schickst du nicht jemand anders hin, um die Akten für dich einzusehen? Mich zum Beispiel.«
Er warf ihr einen belustigten Blick zu. »Netter Versuch.«
Edie seufzte. »Dann eben Bruno!«
Er stocherte mit dem Schüreisen im Feuer, bis Funken auf den Fußboden stoben, dann schüttelte er den Kopf. »Das fühlt sich nicht richtig an. Ich muss es selbst tun.«
Sie reagierte genervt. Dieser starrköpfige, wichtigtuerische, selbstaufopfernde Idiot. »Mann, bist du eingebildet«, fauchte sie. »Was für ein harter Macker. Du musst dich jeder
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