Die Macht der Angst (German Edition)
durch ein Dickicht von Bäumen. Auf der anderen Seite lag eine Lichtung mit einer Hütte. Sie war sehr einfach, kaum mehr als eine Scheune aus verwittertem Holz.
Kev öffnete ein schweres Vorhängeschloss, trat ein und klappte die Fensterläden auf. Es gab eine winzige Küche, ein Bad und einen durch einen Vorhang abgetrennten Schlafbereich, dessen einzelnes Bett von einem Segeltuch und einer Kunststoffplane verhüllt wurde. Darauf stand eine verschlossene Plastiktasche mit Bettzeug.
»Ich werde ein Feuer anfachen und das Propangas für den Wasserboiler entzünden«, sagte Kev. »In ein paar Stunden wird das Wasser warm genug für eine Dusche sein.«
Fasziniert schaute Edie sich um. »Hat Tony sie gebaut?«
Kev schnappte sich eine Handvoll Anzündholz aus einer Kiste neben der Tür, dann kauerte er sich vor den Kanonenofen. »Nein, das hier ist nicht Tonys Stil. Er hat die Hütte vor etwa zwanzig Jahren erworben. Die Witwe eines Freundes, der in Vietnam gefallen war, brauchte Geld. Tony ist nicht wirklich ein Naturbursche, aber er hat Bruno und mich früher öfter hierhergebracht, nur um uns aus der Stadt rauszuschaffen. Seit etwa zehn Jahren halte ich die Hütte instand.«
»Es ist wunderschön hier«, bemerkte Edie. Sie hatte nicht oft Gelegenheit, die Herrlichkeit der Natur zu erleben, aber sie genoss es immer, wenn sich eine ergab.
»Ja, ich liebe es hier oben.« Kevs Miene war nachdenklich, als er das zerknüllte Papier in dem aufgeschichteten Haufen Anmachholz entzündete und zusah, wie die Flammen an Kraft gewannen, über die Zweige und Rindenstücke leckten. »Ich fühle mich hier wohler als irgendwo sonst. Vielleicht stamme ich …« Er brach ab.
Edie brachte seinen Gedanken zu Ende. »Von einem Ort wie diesem?«
»Es wäre denkbar. Ich habe diese Träume. Von einem Haus im Wald. Ringsherum Berge und Bäume.«
»Kommen auch Menschen darin vor?«, hakte sie vorsichtig nach.
Sein Gesicht im Dämmerlicht war ernst, als er nickte. »Ich kann ihre Gesichter sehen, höre ihre Stimmen, aber sie entgleiten mir, sobald ich aufwache. Es ist wie eine einstürzende Wand. Ich kann sie nicht halten.«
»Also sind die Erinnerungen da«, überlegte sie laut. »Nur verschüttet.«
»Ich weiß nicht, wie ich sie ausgraben soll«, sagte er. »Ich habe keine physische Hirnschädigung erlitten. Die Menschen, die mir das antaten, haben nicht an meinem Schädel herumgesägt. Ich denke, die Blockade ist selbstverschuldet.«
Edie setzte sich aufs Bett. »Du hast sie selbst errichtet? Wie?«
»Ich weiß es nicht. Es ist ein Schutzschild, um Osterman fernzuhalten. Aber ich kann es nicht einreißen. Das ist jedenfalls meine Hypothese. Ich werde die Wahrheit vermutlich niemals kennen. Damit muss ich mich abfinden.«
Sie sah sich in der beengten Hütte um. Kev folgte ihrem Blick. »Es ist ziemlich schlicht hier. Kein Kabelfernsehen, Telefonanschluss, Mobilnetz oder Internet. Das ist einer der Gründe, warum ich diesen Ort so sehr liebe. Ich hoffe, dich überkommt hier nicht die Langeweile.«
Edie schnaubte belustigt. Die Langeweile? Als könnte sie sich langweilen, solange ihr Leben in einer Zentrifuge umhergewirbelt wurde und Kev Larsen ihr den Verstand vernebelte.
»Ich könnte morgen auch allein hierbleiben«, schlug sie vor. Kev runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, darum haspelte sie schnell weiter. »Doch, wirklich. Bruno muss sich nicht extra freinehmen, um für mich den Babysitter zu spielen. Das ist ein großer Aufwand, und er wird sich genötigt fühlen, den ganzen Tag unbehagliche Konversation mit einem Mädchen zu betreiben, das er kaum kennt. Ich bin an Einsamkeit gewöhnt. Außerdem habe ich meine Skizzenbücher dabei.«
»Mach dir über Konversation mit Bruno keine Gedanken«, beruhigte Kev sie. »Das Problem ist eher, ihn zum Schweigen zu bringen. Du kannst ihm übrigens jederzeit sagen, dass er die Klappe halten soll. Das verletzt seine Gefühle nicht.«
So viel zu diesem Versuch. »Ich hoffe, dir ist bewusst, was für ein riesiges Zugeständnis meinerseits das ist«, meinte sie düster. »Du hast meine Schuldgefühle ausgenutzt, um mich dazu zu bringen, Kev. Lass dir das nicht zur Gewohnheit werden. Ich bedaure schon jetzt, nachgegeben zu haben.«
Kev häufte eine Schicht dickerer Äste auf das Feuer. »Zu spät.« Er gab sich Mühe, trotzdem klang seine Stimme nicht entschuldigend genug, um überzeugend zu sein. »Ich mache es wieder gut.«
Edie stemmte die Hände in die Hüften. »Ach ja?
Weitere Kostenlose Bücher