Die Macht der Angst (German Edition)
ermordet worden war.
Das machte es plötzlich entsetzlich real. Schaudernd beugte sie sich über den Schreibtisch und versuchte, es nicht vor ihrem geistigen Auge zu sehen, aber leider verfügte sie über eine exzellente Vorstellungskraft.
Ihr Blick fiel auf den dolchförmigen Brieföffner, den ihre Mutter anlässlich Charles’ sechzigsten Geburtstags bei Cartier geordert hatte. Er funkelte in seiner Schatulle. Sie nahm ihn heraus und drehte ihn zwischen den Fingern, während sie sich zurückerinnerte. Fünfzig Gäste, und ihre Eltern hatten Edie mit Argusaugen beobachtet, aus Angst, sie könne mit etwas Unziemlichem herausplatzen und die Party ruinieren.
Sie riss sich zusammen, wischte sich die Tränen aus den Augen und stöberte weiter. In den E-Mails, die ihr Vater in den vergangenen Wochen erhalten hatte, schien nichts Interessantes oder Wichtiges zu stehen. Dasselbe galt für alles andere, das sie auf seinem Bildschirm anklickte. Sie wandte sich vom Computer ab und nahm sich die Akten in den Schränken hinter ihr vor. Helix-Kram. Parrish-Foundation-Kram. Und das tonnenweise.
In den Ordnern der Parrish-Stiftung fand sie jede Menge Korrespondenz ihrer Mutter. Beim Anblick von Linda Parrishs eleganter, geschwungener Handschrift schnürte es ihr die Kehle zu. Es gab eine Mappe voller Dokumente, die mit dem Osterman-Skandal in Zusammenhang standen. Memoranden an die Vorstandsmitglieder der Parrish Foundation. Dutzende hysterische Ermahnungen bezüglich der Notwendigkeit rigoroser Kontrollmaßnahmen, um jeden Penny, der in Forschungsprojekte floss, transparent zu machen und zu verhindern, dass sich eine derartige Blamage wiederholen konnte. Sie stammten samt und sonders aus den Monaten vor Lindas Tod.
In Edies Augen brannten Tränen, als sie sie las. Aus jeder Zeile sprach die strenge, rechtschaffene, selbstgerechte Stimme ihrer Mutter. Ihre Eltern waren so stolz darauf gewesen, Teil einer wohltätigen Organisation zu sein, die dazu beitrug, Schmerzen, Invalidität und Krankheiten zu bekämpfen. Sie hatten sich als gute Menschen, als Altruisten, als Kreuzritter mit einem hehren Ziel betrachtet.
Der Skandal um Osterman hatte beide zutiefst schockiert. Sie hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um sich davon zu distanzieren und die Parrish Foundation vor weiterer Schande zu schützen. Hartnäckig wie fanatische religiöse Eiferer. Das war ihr bester Wesenszug gewesen. Und ihr schlimmster.
Dann entdeckte Edie in der Schreibtischschublade einen unbeschrifteten Ordner. Er enthielt weitere Memos, Notizen, Zeitungsartikel, Visitenkarten, Dankesschreiben, Einladungen zu gesellschaftlichen Anlässen, Werbebroschüren, Zeitschriftenabonnements und ausgedruckte E-Mails. Alles stammte aus der Zeit um den Tod ihrer Mutter.
Edie blätterte den Ordner durch. Dies war das Werk von Lindas Sekretärin, die nach der Beerdigung den Schreibtisch ihrer Chefin ausgeräumt und alles, womit sie nichts anzufangen wusste, in diesem Sammelordner abgeheftet hatte. Edies Blick blieb an einer E-Mail von Des Marr haften. Sie lautete:
Liebe Linda,
gestern las ich deine neuen Vorschläge, um die Transparenz und Belegbarkeit künftiger von der Parrish Foundation zur Verfügung gestellter Forschungsgelder zu erhöhen. Ich gratuliere dir zu deiner harten Gangart. Es ist das, was dieser Vorstand braucht. Du bist genau die richtige Person, um sie wachzurütteln.
Ich würde gern vorbeikommen und ein paar einzelne Punkte mit dir besprechen, bevor wir zu der Vorstandssitzung gehen. Würde es dir um elf passen? Es dauert nur ein paar Minuten.
Des
Edie überprüfte noch einmal das Datum der E-Mail. Eine kalte Skeletthand schloss sich um ihre inneren Organe … und drückte zu. Es war der Todestag ihrer Mutter.
Beruhig dich. Kein Grund durchzudrehen
. Was sollte daran so seltsam sein? Es war für Linda Parrish ein Tag wie jeder andere gewesen. Angefüllt mit E-Mails, Terminen, Meetings.
Nur dass ihre Mutter während dieser Vorstandssitzung zusammengebrochen war. Sie war schon tot gewesen, ehe sie im Krankenhaus eintraf.
Edie realisierte, dass sie auf Des’ E-Mail zeichnete, sie mit winzigen Herzen bedeckte. So, wie sie es in dem Restaurant mit der Serviette gemacht hatte. Bei ihrem letzten Treffen mit ihrer Mutter
.
Eine von Edies kleinen Zwangsneurosen
. Die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf war so lebendig, als spräche sie leibhaftig mit ihr.
»Sieh mal einer an! Also bist du von deiner kleinen sexuellen Eskapade endlich heimgekehrt?
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