Die Macht der Angst (German Edition)
ich war zwölf und Davy vierzehn. Und hier sieht man Kev beim Zeichnen. Ich glaube, Davy hat es geknipst, als Kev etwa sechzehn war. Und hier ist Sean bei seiner Highschool-Abschlussfeier mit uns allen zusammen.«
»Oh,
madonna santissima
.« In den Augen der alten Dame schimmerten Tränen. »Seht ihn nur an. Ganz ohne Narben.
Mio povero bambino
.«
»Was für Narben?«, fragte Davy. »Woher hat er sie? Und was zur Hölle hat er die vergangenen achtzehn Jahre getrieben?«
Tony verstaute die Flinte sorgsam wieder unter dem Tresen. Bruno sah noch immer die Fotos durch, sein Gesicht hoch konzentriert, als wäre er überzeugt, dass sie irgendwie gefälscht sein mussten.
Sein Großonkel drehte sich langsam um und nahm ein Souvenir aus Keramik in Form des römischen Kolosseums aus dem Regal. Er zog einen Gummistöpsel aus dem Boden und schüttelte etwas Kleines in seine Hand. Während er den Tresen umrundete, ließ er es von seinen Fingern baumeln. Es waren Erkennungsmarken, die mit den Jahren dunkel angelaufen waren.
»Die waren in seiner Jeanstasche, als ich ihn in jener Nacht gefunden habe«, sagte Tony.
Davy griff danach. Con lehnte sich über Davys Schulter. »Lieber Himmel«, sagte er leise. »Ich wusste nicht mal, dass Kev sie hat.«
»Wo gefunden?«, fragte Davy mit harter Stimme.
»In Renton. Hinter dem Lagerhaus, in dem ich damals arbeitete. Es war der 24. August. Zweiundneunzig. Dieser riesenhafte Dreckskerl war dabei, ihn totzuschlagen. Ich war als Wachmann angestellt und hatte Nachtschicht. Eine Weile habe ich über den Monitor zugesehen, aber es ging mir auf den Sack, dass der andere Kerl zu fertig war, um sich zu wehren.« Tony zuckte die Achseln. »Also bin ich mit meiner Beretta raus und hab ein paar Schüsse auf den blöden Hurensohn abgegeben. Und da war Kev. Halb tot.«
»Aber er hat überlebt«, folgerte Miles.
»Ja«, bestätigte Tony. »Er hat überlebt. Ich hatte keinen Schimmer, was ich mit ihm machen sollte. Ich konnte ihn nicht in ein Krankenhaus bringen, weil ich dachte, dass sie darauf bestimmt nur warteten. Also hab ich ihn mit nach Hause genommen. Lange Zeit stimmte etwas hier oben mit ihm nicht.« Tony tippte sich an die Schläfe. »Er konnte weder sprechen noch schreiben. Er schien geistig unterbelichtet zu sein. Wer immer ihn geschnitten und ihm Verbrennungen im Gesicht zugefügt hatte, hat vielleicht auch etwas mit seinem Hirn angestellt. Wer kann das schon wissen?«
Davy und Con zuckten beide zusammen. »Verbrennungen?«, fragte Davy erschüttert.
»Er wurde gefoltert«, erklärte Tony schonungslos. »Es war schlimm. Er erinnerte sich an nichts. Konnte nicht sprechen. Ich behielt ihn hier, bei uns. Er arbeitete hier, aß hier, schlief hier. Er war in Sicherheit. Wir haben uns gut um ihn gekümmert.«
»Aber Sie hatten doch das hier.« Davy schüttelte die Erkennungsmarken. Seine Stimme bebte vor mühsam beherrschtem Ärger. »Mit ihnen hätten Sie uns aufspüren und ihn nach Hause bringen können. Wir hätten uns selbst um ihn gekümmert. Er ist unser Bruder, Herrgott noch mal. Es war unsere Aufgabe, ihn zu beschützen, uns um ihn zu kümmern. Warum um alles in der Welt haben Sie uns nicht ausfindig gemacht?«
»Ich gelangte zu einer falschen Schlussfolgerung«, antwortete Tony steif. »Ich hielt Eamon McCloud für einen Killer, und als ich sah, wie Kev kämpfen konnte, dachte ich, er sei in McClouds Team gewesen und habe sich bei dem Kerl unbeliebt gemacht. Ich dachte, nach McCloud zu suchen, würde das Todesurteil für Kev bedeuten. Also habe ich nichts unternommen.«
Connor atmete scharf aus. »Großer Gott«, murmelte er.
»Euer Vater hat euch Jungs beigebracht, wie man kämpft, oder?«, erkundigte Tony sich.
Davy nickte, was Tony mit einem Grunzen quittierte. »Das würde Kevs Kampftechnik und das ganze Zeug, das er weiß, erklären. Ich folgerte, dass er einer Spezialeinheit angehört haben musste, denn wie sollte er sonst so geübt im Umgang mit Messern und diesem ganzen Überlebenskram sein?«
»Das kommt daher, dass er Eamon McClouds Sohn ist«, erklärte Con. »Das alles gehörte zum Lehrplan.«
Miles versuchte, das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zurückzulenken. »Er hat sein Gedächtnis verloren? Hat er es je wiedergefunden?«
»Nicht wirklich«, antwortete Bruno zögernd. »Vor ein paar Monaten ist er einen gigantischen Wasserfall runtergestürzt und hat sich heftig den Kopf angeschlagen. Dabei wurde ein Teil seiner Erinnerung freigesetzt,
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