Die Macht der Disziplin
ihre Ernährung streng kontrollieren, mit einem Mal nicht mehr beherrschen können.
Die Forscher tauften das Phänomen »gegenregulierende Nahrungsaufnahme« – untereinander sprachen sie weniger formell ganz einfach vom »Scheißegal-Effekt« 173 . Wer Diät hält, hat jeden Tag ein festes Kalorienziel vor Augen, und wer diese Latte unerwartet reißt, wie im Experiment durch die beiden Milchshakes, hat das Gefühl, die Diät für diesen Tag in den Sand gesetzt zu haben. Der Tag wird innerlich abgehakt, egal was sonst noch passiert. Erst morgen lässt sich die Diät wieder aufnehmen. Also denken die Betroffenen: »Scheißegal, dann kann ich mir ja heute den Bauch vollschlagen« – und mit der folgenden Fressorgie legen sie mehr Kalorien zu als mit dem ursprünglichen Ausrutscher. Das ist natürlich vollkommen irrational, und die Betroffenen scheinen sich nicht bewusst zu sein, welchen Schaden sie mit dieser Völlerei anrichten.
Dies zeigte ein Nachfolgeexperiment, das Hermans Kollegin Janet Polivy durchführte. Wieder kamen die Testpersonen hungrig ins Labor, und wieder wurde einigen der Teilnehmer, die Diät hielten, eine Portion vorgesetzt, mit der sie ihre tägliche Kalorienration sprengten. Zum Abschluss bekamen alle Teilnehmer geviertelte Sandwiches. Danach wurden alle unvorbereitet gefragt, wie viele Viertel sie verzehrt hatten.
Den meisten Teilnehmern fiel es nicht schwer, diese Frage zu beantworten– sie hatten ja gerade erst gegessen und wussten, wie viele Stücke sie zu sich genommen hatten. Nur eine Gruppe war erstaunlich ahnungslos: diejenigen Teilnehmer, die Diät hielten und die erlaubte Kalorienmenge überschritten hatten. Einige schätzten die Zahl zu niedrig, andere zu hoch, und alle lagen deutlich weiter daneben als die anderen, die noch innerhalb ihres Kalorienlimits lagen oder keine Diät hielten. Solange die Diät für diesen Tag noch nicht überschritten war, beobachteten die Diäthaltenden ihre Kalorienaufnahme. Sobald sie die Diät gebrochen hatten 174 , erlagen sie dem Scheißegal-Effekt, schlossen ihre Augen und aßen weiter.
Wie wir wissen, ist die Selbstbeobachtung nach der Zielsetzung der wichtigste Aspekt der Selbstdisziplin – aber wie kann sich jemand selbst überwachen, der nicht mehr auf seinen Teller schaut? Alternativen könnten sie darauf achten, wenn der Körper signalisiert, dass er satt ist. Aber wenn wir auf Diät sind, versagt auch diese Strategie.
Die Zwickmühle der Diät
Wir Menschen verfügen über die angeborene Fähigkeit, genau die richtige Menge an Nahrung zu uns zu nehmen. Wenn ein Neugeborenes Nahrung benötigt, verspürt es Hunger. Wenn der Körper genug Nahrung zu sich genommen hat, will das Baby nichts mehr essen. Leider schwächt sich diese Fähigkeit etwa mit der Einschulung ab, und einige Menschen verlieren sie fast völlig – vor allem diejenigen, die sie am dringendsten benötigen. Wissenschaftler rätseln seit Jahrzehnten, warum dem so ist, und führten in den sechziger Jahren Experimente durch, mit denen die Essforschung revolutioniert wurde.
In einer Versuchsanordnung brachten Wissenschaftler eine manipulierte Uhr 175 an der Wand eines Raums an, in dem Testpersonen Stapel von Fragebögen ausfüllen sollten. Süßigkeiten wurden bereitgestellt, von denen die Testpersonen so viel essen konnten, wie sie wollten. Wurde die Uhr beschleunigt, aßen die übergewichtigen Teilnehmermehr als andere, denn die Uhr signalisierte ihnen, dass die Mittagessenszeit näher rückte und sie daher hungrig sein müssten. Statt auf die Signale ihres Körpers zu hören, richteten sie sich nach der Uhr. In einem anderen Experiment reichten die Wissenschaftler mal geschälte, mal ungeschälte Erdnüsse. Bei normalgewichtigen Versuchspersonen schien der Unterschied keine Rolle zu spielen, sie aßen in beiden Fällen etwa die gleiche Menge an Erdnüssen. Übergewichtige Teilnehmer aßen dagegen mehr Erdnüsse, wenn sie diese erst schälen mussten – offenbar stellten sie in dieser Form eine größere Verlockung dar. Wieder reagierten übergewichtige Teilnehmer vor allem auf äußere Signale. Daher zogen die Wissenschaftler zunächst den Schluss, dass sie deshalb übergewichtig seien, weil sie die Signale des Körpers ignorierten.
Die Theorie klang vernünftig, aber irgendwann stellten die Wissenschaftler fest, dass sie Ursache und Wirkung verwechselt hatten. Es funktionierte genau andersherum: Aufgrund ihres Übergewichtes hielten diese Menschen eher Diät, und diese
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