Die Macht der Disziplin
wissenschaftlichen Artikeln ein Beispiel fürProbleme mit der Selbstdisziplin suchen, dann verweisen sie nach wie vor gern auf Diäten.
Unlängst haben Wissenschaftler jedoch festgestellt, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Selbstdisziplin und Abnehmen gibt. Stattdessen fanden sie etwas, das man zu Ehren der ungekrönten Diät-Königin als Oprah-Paradox 165 bezeichnen könnte. Nachdem Oprah Winfrey ihre Fernsehlaufbahn als Nachrichtensprecherin begonnen hatte, legte sie von 56 auf 63 Kilogramm zu. Sie suchte einen Ernährungsexperten auf, der sie auf eine Diät von 1 200 Kalorien pro Tag setzte. Damit speckte sie in der ersten Woche 3 Kilo ab und innerhalb eines Monats war sie wieder auf 56 Kilogramm. Aber allmählich legte sie die verlorenen Pfunde wieder zu. Als sie bei 96 Kilogramm angekommen war, ernährte sie sich vier Monate lang nur von Flüssignahrung und kam damit wieder bis auf 65 Kilogramm. Doch ein paar Jahre später brachte sie mehr denn je auf die Waage, nämlich 107 Kilogramm. Damals füllte sie ihr Tagebuch mit Gebeten, Gott möge ihr doch beim Abnehmen helfen. Als sie für den Emmy nominiert wurde, betete sie, ihr Konkurrent Phil Donahue möge gewinnen, weil sie sich auf diese Weise »die Peinlichkeit ersparte, meinen fetten Hintern aus dem Sitz schälen und den Gang hinunter auf die Bühne watscheln zu müssen«, wie sie sich später erinnerte. Sie hatte längst alle Hoffnung aufgegeben, als sie den Coach Bob Greene kennen lernte, der ihr Leben genauso radikal verändern sollte wie sie seines.
Greene schrieb Bestseller mit Trainingsroutinen und Rezepten, die er bei Oprah Winfrey anwendete, und verkaufte seine eigene Produktlinie Best Life. Unter der Anleitung von Greene, ihrem persönlichen Koch (der seine eigenen Bestseller schrieb), Ernährungsfachleuten, Ärzten und anderen Experten aus ihrer Sendung stellte Winfrey ihre Ernährung, ihr Sportprogramm und ihr ganzes Leben um. Sie erstellte Wochenpläne mit sämtlichen Mahlzeiten, in denen sie genau aufführte, wann sie Thunfisch aß, wann Lachs und wann Salat. Ihre Assistenten planten ihren Tagesablauf um ihre Mahlzeiten und Fitnessprogramme herum. Sie erhielt emotionale Unterstützungvon Freundinnen wie der New-Age-Autorin Marianne Williamson, mit der sie sich über das Verhältnis von Körpergewicht und Liebe austauschte.
Das Ergebnis präsentierte sie im Jahr 2005 auf dem Cover ihrer Zeitschrift: eine strahlende, schlanke Frau von 72 Kilogramm (trotz dieses Triumphs war sie allerdings immer noch fast 10 Kilogramm schwerer als zu Beginn ihrer ersten Diät). Mit ihrer Erfolgsgeschichte begeisterte sie ihre Fans und den Anthropologen George Armelagos von der Emory University. Dieser nutzte ihr Beispiel, um einen historischen Wandel zu beschreiben, den er als Heinrich-VIII.-und-Oprah-Winfrey-Effekt 166 bezeichnete. Im 16. Jahrhunderts war es gar nicht einfach, einen derartigen Bauchumfang zu erwerben und zu halten wie der englische König Heinrich VIII. Mit seiner Diät beschäftigte er Hundertschaften von Bauern, Gärtnern, Fischern, Jägern, Metzgern, Köchen und anderen Dienern. Aber heute wird selbst das Fußvolk problemlos so dick wie Heinrich VIII. – tatsächlich leiden arme Menschen tendenziell eher an Übergewicht als die Angehörigen der herrschenden Klassen. Ein schlanker Körper ist ein Statussymbol, weil es den meisten Menschen so schwerfällt, ihn zu erhalten, wenn sie nicht gerade mit den richtigen Genen gesegnet sind. Um schlank zu bleiben, sind heute die Ressourcen einer Oprah Winfrey und eine Schar neuer Vasallen – Coaches, Köche, Ernährungsberater, Psychologen und Assistenten – erforderlich.
Doch selbst deren Unterstützung ist kein Erfolgsgarant, wie die Zuschauer von
Oprah
beobachten konnten und wie Winfrey selbst in einem erfrischend offenen Artikel vier Jahre nach ihrer triumphalen Cover-Story einräumte. Diesmal zeigte das Titelblatt die alte Oprah mit 72 Kilogramm neben der neuen mit 90 Kilogramm. »Ich bin sauer auf mich«, gestand sie ihren Leserinnen. »Ich schäme mich. Ich kann es einfach nicht glauben, dass ich mir nach all den Jahren und all den Dingen, die ich gelernt habe, immer noch Gedanken über mein Gewicht machen muss. Ich schaue mein schlankes Ich an und frage mich: ›Wie konnte ich das nur zulassen?‹« Sie suchte die Erklärung in einerMischung aus Überarbeitung und gesundheitlichen Problemen, die möglicherweise beide ihren Willen schwächten. Aber Oprah Winfrey ist
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