Die Macht der Disziplin
Gefühl hat, Demut zeigen zu müssen. Aber warum? »Weil es funktioniert, ganz einfach«, meint Clapton und wiederholt eine Entdeckung, die geläuterte Hedonisten seit Jahrtausenden beschreiben. Manchmal passiert es von einem Moment auf den anderen, wie bei Eric Clapton oder dem heiligen Augustinus, der in seinen
Bekenntnissen
schreibt, er habe von Gott den Befehl erhalten, nicht mehr zu trinken; daraufhin »kam das Licht des Friedens über mein Herz und die Nacht des Zweifels entfloh«.
Manchmal dauert es etwas länger, wie bei der Berufszynikerin Mary Karr, Autorin von
The Liars’ Club
, ihren Erinnerungen an eine Kindheit in einer texanischen Ölstadt. Ihre Mutter, die siebenmal heiratete, war Alkoholikerin, zündete ihre Spielsachen an und versuchte, sie zu erstechen. Karr wurde eine erfolgreiche Dichterin und kämpfte mit ihrem eigenen Alkoholismus. Als sich nach der Heimfahrt von einem Besäufnis ihr Auto überschlug, schwor sie, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren und befolgte den Rat der Anonymen Alkoholiker, eine höhere Macht um Beistand zu bitten. Sie legte ein Kissen auf den Boden und kniete sich zum ersten Mal in ihrem Leben hin, um zu beten – oder was sie so bezeichnet. Ihre Version eines Gebets sah so aus: »Scheiße, höhere Macht, wo warst du die ganze Zeit?« Sie glaubte zwar nicht an einen Gott, aber sie beschloss, sich jeden Abend dafür zu bedanken, dass sie den Tag nüchtern geblieben war. Nach einer Woche fing sie an, weitere Dinge in ihr Abendgebet aufzunehmen, für die sie dankbar war. Außerdem flocht sie auch immer mehr Wünsche ein, zum Beispiel wenn sie Geld brauchte.
»Ich brauche fünf Minuten, bis ich mit den Bitten durch bin«, erinnert sie sich in ihren Memoiren
Lit
. »So verrückt es klingt, aber zum ersten Mal seit einer Woche habe ich kein Bedürfnis nach Alkohol.« Sie blieb der höheren Macht gegenüber skeptisch, und als dieAngehörigen ihrer Selbsthilfegruppe sie drängten, sich »zu ergeben«, protestierte sie: »Was soll ich denn machen, wenn ich nicht an Gott glaube? Das ist doch so, als würden sie mich vor eine Schaufensterpuppe setzen und mir sagen, ich soll mich in sie verlieben. So was geht nicht auf Kommando.« Religion erschien ihr vollkommen irrational, aber als sie auf einem Empfang des New Yorker Literatur-Jetset in der Morgan Library der Durst nach einem Cocktail unwiderstehlich wurde, schloss sie sich verzweifelt auf der Frauentoilette ein, sank auf die Knie und betete: »Bitte halte mich von den Cocktails fern. Ich weiß, ich habe nie darum gebeten, aber ich brauche Hilfe. Bitte, bitte, bitte.« Es wirkte, genau wie bei Clapton. »Das Gequassel in meinem Gehirn verstummte, als hätte es jemand weggezaubert.«
Für Agnostiker ist diese Magie schwer zu verstehen, und wir zählen uns zu dieser Gruppe. (Wir wurden zwar beide christlich getauft, haben jedoch kaum Zeit auf den Knien verbracht, weder zu Hause noch in einer Kirche.) Doch wenn man sich die Daten ansieht, drängt sich die Frage auf, ob durch die Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker und die Gottesdienste nicht doch eine höhere Macht wirken könnte. Obwohl viele Menschen den religiösen Institutionen skeptisch gegenüberstehen – Psychologen sind interessanterweise besonders skeptisch –, hegen Forscher, die sich mit der Selbstdisziplin beschäftigen, einen gewissen widerstrebenden Respekt für ihre praktischen Ergebnisse. Auch wenn Sozialwissenschaftler vielleicht nicht an die Existenz einer höheren Macht glauben, müssen sie anerkennen, dass die Religion ein einflussreiches Phänomen ist, das seit Jahrtausenden wirksame Mechanismen zur Selbstdisziplin entwickelt hat. Die Anonymen Alkoholiker würden nicht Millionen von Menschen anziehen, wenn sie nicht irgendetwas bewirken würden. Kann es sein, dass der Glaube an eine höhere Macht mehr Selbstbeherrschung verleiht? Oder passiert da noch etwas anderes, das sich vielleicht auch Agnostiker zunutze machen könnten?
Das Geheimnis der Anonymen Alkoholiker
Mit Ausnahme der religiösen Organisationen sind die Anonymen Alkoholiker 123 vermutlich das größte Programm zur Selbstdisziplin, das es je gab. Sie helfen mehr Alkoholikern als alle übrigen kommerziellen Programme und Kliniken zusammengenommen, und viele professionelle Therapeuten schicken ihre Klienten zu ihren Treffen. Sozialwissenschaftler sind dennoch nach wie vor skeptisch, was ihre Erfolge angeht. Es ist schwer, die Behandlungserfolge einer dezentralisierten Organisation
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