Die Macht der Disziplin
ohne Krankenakten nachzuvollziehen: Die Gruppen agieren autonom und bestehen natürlich darauf, dass die Teilnehmer anonym bleiben. Sie orientieren sich an den Zwölf Schritten, aber diese Schritte stellen kein systematisches Behandlungsprogramm dar – die Gründer entschieden sich für die Zahl zwölf in Anlehnung an die zwölf Apostel des Neuen Testaments. Ein Wissenschaftler würde diese Zwölf Schritte einen nach dem anderen überprüfen wollen, um zu sehen, welcher am wirkungsvollsten ist (wenn überhaupt).
Die Mitglieder der Anonymen Alkoholiker vergleichen den Alkoholismus gern mit anderen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Depression oder Alzheimer, aber diese Vergleiche hinken. 124 Der Alkoholismus weist zwar auch physiologische Aspekte auf – einige Menschen scheinen eher eine Prädisposition dafür zu besitzen als andere –, aber die Teilnahme an den Sitzungen der Anonymen Alkoholiker ist nicht mit einem Arztbesuch vergleichbar. Diabetiker setzen sich nicht zusammen und behandeln ihre Krankheit, indem sie einander aufmuntern, und depressive Menschen haben wenig davon, wenn sie sich mit anderen depressiven Menschen austauschen. Die wenigsten Krankheiten haben ihre Ursache in freiwilligen, regelmäßigen und selbstzerstörerischen Handlungen der Erkrankten, und niemand kann eine Entscheidung treffen, nicht an Herzklappenfehlern oder Alzheimer zu erkranken. Der Alkoholismus ist komplizierter, und diese Kompliziertheit lässt Wissenschaftler über die widersprüchlichen Ergebnisse von Untersuchungen der Anonymen Alkoholikerrätseln. Einige sind der Auffassung, der Mangel an schlüssigen Beweisen für Behandlungserfolge lasse Zweifel am Programm der Anonymen Alkoholiker angebracht erscheinen, andere halten dagegen, die Wissenschaftler seien nur nicht imstande, die verwirrenden Variablen herauszurechnen.
Die Fürsprecher der Anonymen Alkoholiker stellen fest, dass Menschen, die regelmäßig an deren Treffen teilnehmen, weniger Alkohol zu sich nehmen als diejenigen, die seltener teilnehmen, doch Kritiker fragen sich, was hier die Ursache ist und was die Wirkung. Bedeutet häufige Teilnahme, dass die Alkoholiker eher trocken bleiben, oder motiviert die Abstinenz eher zur Teilnahme? Vielleicht schämen sich die rückfälligen Trinker ja, an den Treffen teilzunehmen. Oder vielleicht waren sie von vornherein weniger motiviert und hatten größere psychische Probleme.
Trotz dieser Unwägbarkeiten haben Wissenschaftler Hinweise gefunden, dass das Programm der Anonymen Alkoholiker tatsächlich wirkt. Wenn zwei Ereignisse zusammentreffen und Forscher herausfinden wollen, was Ursache ist und was Wirkung, versuchen sie oft, beide über einen längeren Zeitraum zu beobachten, um zu erkennen, was als erstes eintritt; dabei gehen sie von der Annahme aus, dass die Ursache der Wirkung zeitlich vorangeht. Eine Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung von John McKellar von der Stanford University beobachtete mehr als zweitausend Männer mit Alkoholproblemen über einen Zeitraum von zwei Jahren und kam zu dem Schluss, dass die Teilnahme an den Treffen der Anonymen Alkoholiker eine Verringerung der Alkoholprobleme zur Folge hatte (und nicht umgekehrt; es gab keinen Hinweis darauf, dass die Verschärfung oder Linderung der Alkoholprobleme sich auf die Teilnahme auswirkte). Die positiven Auswirkungen des Programms der Anonymen Alkoholiker bestätigten sich auch, wenn man die ursprüngliche Motivation und die psychischen Probleme der Männer einbezog. Auch andere Wissenschaftler gelangten zu dem Schluss, dass die Anonymen Alkoholiker besser sind als gar nichts. Die Rückfallquote ist zwar hoch– die meisten Teilnehmer erleben regelmäßig Rückschläge –, doch sie kehren danach in der Regel wieder zur Abstinenz zurück. Damit sind die Anonymen Alkoholiker mindestens so effektiv wie professionelle Behandlungsprogramme.
Das Projekt MATCH 125 , ein groß angelegtes Forschungsprogramm aus den neunziger Jahren, stellte die Theorie auf, dass alle Behandlungen anschlugen, wenn auch nicht in allen Fällen gleich gut. Diese Theorie ging davon aus, dass einige Alkoholiker bei den Anonymen Alkoholikern besser aufgehoben seien, während andere eher von professioneller Therapie profitierten. Um diese Annahme zu überprüfen, wurden einige der Patienten zu den Anonymen Alkoholikern geschickt und andere nahmen an zwei klinischen Programmen unter Leitung von Experten teil (eines basierte auf der kognitiven Verhaltenstherapie, das
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