Die Macht der Disziplin
Aktivität gewesen«, schrieb er. Stattdessen ertrugen sie die »tödliche Monotonie«. So schlimm es für ihn war, sich mit den kranken, hungernden und sterbenden Männern durch den Urwald zu kämpfen: »Die dauernden Beschäftigungen waren zu anstrengend und interessant, um Raum für niedere Gedanken zu lassen.« Stanley betrachtete Aktivität als geistigen Rettungsanker:
Zum Schutz gegen Verzweiflung und Wahnsinn griff ich zur Selbstvergessenheit und dem Interesse, das mir meine Aufgabe bot. Mein Lohn war das Bewusstsein, dass meine Kameraden meinen Einsatz zu schätzen wussten und wir durch gemeinsame Sympathien und Ziele verbunden waren. Dies gab mir die Kraft, mich meinen mitmenschlichen Aufgaben zu widmen, und festigte meine Moral. 119
Wenn Stanley von »gemeinsamen Sympathien« und »mitmenschlichen Aufgaben« schreibt, dann könnte sich der Verdacht aufdrängen, dass er damit vor allem sich selbst diente. Stanley stand in dem Ruf, kalt und streng zu sein. Er war schließlich der Mann, der mit der kühlsten Begrüßung aller Zeiten in die Geschichtsbücher einging: »Dr. Livingstone, I presume? – Dr. Livingstone, nehme ich an?« Selbst die Viktorianer empfanden diese Formel als lächerlich steif für zwei Briten, die sich mitten im afrikanischen Urwald begegneten. Das Interessante an diesem berühmten Gruß ist jedoch, so sein Biograf Jeal, dass Stanley ihn so nie aussprach. Zum ersten Mal taucht er in Stanleys Artikel für den
New York Herald
auf, den Stanley lange nach der Begegnung verfasste. Keiner der beiden Männer erwähnte diesen Satz in seinen Aufzeichnungen, Stanley riss die entscheidende Seite aus seinem Tagebuch heraus. Der Entdecker, der wegen seiner Kindheit im Arbeitshaus unter Minderwertigkeitskomplexen litt, dichtete diesen Gruß offenbar nachträglich, um einen möglichst würdevollen Eindruck zu erwecken. Er bewunderte die Steifheit der britischen Gentleman-Reisenden und bemühte sich, ihre Kühle zu imitieren, indem er seine Abenteuer möglichst distanziert beschrieb. Aber er verfügte weder über ihr Flair noch über ihre Diskretion. Während sie in ihren Büchern gewalttätige Auseinandersetzungen und Disziplinarmaßnahmen während ihrer Expeditionen verschwiegen oder herunterspielten, übertrieb Stanley diese Ereignisse, um sich als Draufgänger darzustellen und seine Artikel und Bücher zu verkaufen.
So kam es, dass Stanley lange als einer der brutalsten Entdecker seiner Epoche galt, obwohl er sich in Wirklichkeit gegenüber den Afrikanernungewöhnlich menschlich verhielt, selbst im Vergleich zum frommen Dr. Livingstone. Für seine Zeit besaß Stanley erstaunlich wenige Vorurteile. Er sprach fließend Suaheli und pflegte lebenslange Freundschaften zu seinen afrikanischen Begleitern. Auf der anderen Seite bestrafte er europäische Offiziere, die Afrikaner unter ihrem Befehl misshandelten, und forderte seine Männer auf, sich jeder Gewalt gegen einheimische Dorfbewohner zu enthalten. Zwar griff er manchmal zu den Waffen, wenn Verhandlungen scheiterten und Geschenke ihre Wirkung verfehlten, doch das Bild eines Stanley, der sich seinen Weg durch Afrika schießt, ist ein Mythos. Sein Erfolgsgeheimnis waren nicht die Kämpfe, die er in seinen Büchern so lebhaft schildert, sondern zwei Prinzipien, die er nach seiner letzten Expedition so zusammenfasste:
Unter der Anspannung der drohenden Gefahr habe ich zweierlei gelernt: Erstens, dass Selbstbeherrschung wichtiger ist als Schießpulver, und zweitens, dass Selbstbeherrschung unter den Herausforderungen der Reisen in Afrika unmöglich ist ohne echte, wahrhaft empfundene Sympathie für die Einheimischen, denen man begegnet.
Wie Stanley erkannte, geht es bei der Selbstbeherrschung um mehr als das »Selbst«. Dank der Willenskraft sind wir in der Lage, mit anderen auszukommen und Impulse zu überwinden, die auf egoistischen, kurzsichtigen Interessen beruhen. Im Laufe der Menschheitsgeschichte waren Religionen und ihre Gebote verbreitete Mittel, um Menschen von ihrem egoistischen Verhalten abzubringen. Wie wir noch sehen werden, ist die Religion bis heute eine effektive Strategie der Selbstdisziplinierung. Aber was können Sie tun, wenn Sie wie Stanley kein gläubiger Mensch sind? Stanley hatte seinen Glauben als junger Mann im Amerikanischen Bürgerkrieg verloren und stand vor einer Frage, die auch andere Zeitgenossen umtrieb: Wie können wir uns moralisch verhalten, wenn unsere Triebe nicht mehr von den Geboten der
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