Die Macht der Disziplin
eine Haftstrafe abzusitzen. Damit waren sie eigentlich keine ideale Testgruppe, denn viele nahmen vermutlich nur der Form halber Teil, weil sie nicht ins Gefängnis gehen wollten. Die Wissenschaftler unter der Leitung von Carlo DiClemente von der University of Maryland maßen eine Reihe von psychologischen Variablen und begleiteten die Männer über mehrere Monate hinweg, um verschiedene Hypothesen zu überprüfen. Viele erwiesen sich als falsch. Aber immerhin erkannten die Wissenschaftler einen Faktor, der einen großen Einfluss auf die künftige Nüchternheit der Männer und die Schwere der Rückfälle hatte. Die Alkoholiker wurden gefragt, ob sie andere Menschen um Beistand bei der Bewältigung ihres Alkoholproblems gebeten hatten. Diejenigen Männer, die soziale Unterstützung erhielten, blieben länger trocken und tranken insgesamt weniger.
Soziale Unterstützung ist eine sonderbare Kraft, die in zwei Richtungen wirken kann. Viele Untersuchungen zeigen, dass Einsamkeit belastend wirkt. Einsame Menschen leiden häufiger unter allen möglichen seelischen und körperlichen Krankheiten als Menschen mit funktionierenden zwischenmenschlichen Beziehungen. Das liegt zwar einerseits daran, dass Menschen mit psychischen und physischen Problemen weniger Freundschaften schließen und auf andere Menschen abschreckend wirken können. Doch die Einsamkeit selbst schafft neue Probleme. Unter anderem trägt ein Mangel an Freunden zum Alkohol- und Drogenmissbrauch bei.
Trotzdem ist soziale Unterstützung nicht gleich soziale Unterstützung. Freunde mögen gut für die seelische und körperliche Gesundheit sein. Aber wenn Ihre Freunde Trinker und Drogensüchtige sind, dann helfen sie Ihnen vermutlich nicht, Ihre Impulse im Zaum zu halten. Im Gegenteil könnten sie Sie direkt oder indirekt zum Trinken animieren, weil das zu ihrem Sozialverhalten gehört. In den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts gab es beispielsweise einen Brauch namens »Grillgesetz« 128 : Wenn sich Männer zu einem Grillfest trafen, mussten sie trinken, bis sie ordentlich einen in der Krone hatten. Wer ein alkoholisches Getränk ablehnte, beleidigte den Gastgeber und die übrigen Gäste.
Neuere Untersuchungen ergeben, dass wir mehr trinken, wenn wir von unseren Freunden dazu angehalten werden. Wer mit Alkohol- und Drogenproblemen kämpft, braucht soziale Unterstützung, um nicht zu trinken, und an diesem Punkt können Gruppen wie die Anonymen Alkoholiker eine entscheidende Unterstützung bieten. Alkoholiker haben oft so viel Zeit mit anderen Trinkern verbracht, dass sie sich kaum vorstellen können, welchen Nutzen eine andere Form des Gruppenzwangs haben soll. Erst als Clapton in der Klinik war, suchte er die Unterstützung anderer Menschen, um mit dem Trinken aufzuhören. Und als Karr die ersten Versuche unternahm, nichts mehr zu trinken, schleppte sie sich pflichtschuldigst zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker in das Hinterzimmer einer Kirche, dochdie bunt zusammengewürfelte Gruppe und ihre ernsten Bekenntnisse schreckten sie zunächst ab.
Sie hielt Abstand, bis sie nach einem besonders katastrophalen Absturz den Rat der Anonymen Alkoholiker beherzigte und sich ein Mitglied der Gruppe, eine Akademikerin aus Boston, als Sponsorin und persönliche Beraterin wählte. Karr hatte keine Lust, sich ihr Gerede von einer höheren Macht anzuhören, doch die täglichen Gespräche halfen ihr: »Mit ihrer Hilfe habe ich zwei Monate lang keinen Tropfen Alkohol angerührt: Ich habe die Fäuste geballt und die Zähne zusammengebissen und eine Anstrengung unternommen, die außer den Leuten im Keller der Kirche, den ich an ein paar Abenden pro Woche besuche, niemand zu würdigen weiß.« Als sich die beiden Frauen in einem Café trafen, um Karrs zwei trockene Monate zu feiern, beschwerte sich Karr über die Versager und Spinner in ihrer Gruppe, und »den ganzen spirituellen Scheiß«. Ihre Sponsorin schlug ihr vor, die höhere Macht und die Gruppe in einem anderen Licht zu sehen: »Es ist eine Gruppe von Leuten. Zusammen sind sie mehr als du, sie verdienen besser als du, und sie haben mehr Gewicht als du. Wenn man es einfach nimmt, sind sie eine höhere Macht als du. Sie haben vor allem mehr Erfahrung als du, wenn es darum geht, nüchtern zu bleiben. Wenn du ein Problem hast, erzähl der Gruppe davon.«
Die Macht der Gruppe kommt unter anderem aus dem passiven Akt des Zusammensitzens und Zuhörens. Neulingen erscheinen die Treffen oft sinnlos, denn die Teilnehmer
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