Die Macht der Disziplin
Religion gezügelt werden? Wie Stanley beantworteten viele Atheisten dieseFrage, indem sie sich nach außen weiterhin zur Religion bekannten und gleichzeitig versuchten, ein weltliches »Pflichtgefühl« herzustellen. Während seines furchtbaren Marsches durch den Ituri-Urwald ermahnte Stanley seine Männer mit einem Zitat aus Tennysons Ode auf den Tod des Duke of Wellington: »In der Geschichte unserer Insel führte oft der Weg der Pflicht zum Ruhm.«
Stanleys Männer zeigten nicht immer Verständnis für diese hochtrabende Gesinnung und konnten den Spruch irgendwann nicht mehr hören, aber dahinter steckte ein wirksames Prinzip der Selbstdisziplin: Konzentrieren Sie sich auf erhabene Ideale. Die Wirkung dieser Strategie wurde unlängst von Wissenschaftlern unter der Leitung von Kentaro Fujita von der New York University und seinem Doktorvater Yaacov Trope untersucht. 120 Mit einer Reihe von Tricks schafften sie es, das Denken ihrer Testpersonen auf eine hohe beziehungsweise niedere Ebene zu verlagern. Zum Beispiel sollten einige Versuchsteilnehmer darüber nachdenken,
warum
Menschen etwas taten, und andere,
wie
sie es taten. Die Frage »warum« ist auf die Zukunft und eine höhere Ebene gerichtet, die Frage »wie« dagegen auf die Gegenwart und eine niedrigere Ebene. Alternativ brachten sie die Teilnehmer dazu, abstrakter beziehungsweise konkreter zu denken.
Diese Manipulation des Denkens hat an sich noch nichts mit der Selbstdisziplin zu tun. Trotzdem ergab sich ein erstaunlich eindeutiger Zusammenhang: Je höher oder abstrakter die Teilnehmer dachten, desto selbstbeherrschter waren sie: Sie verzichteten auf eine kurzfristige Belohnung und drückten den Handmuskeltrainer mit größerer Ausdauer. Enges, konkretes und gegenwartsbezogenes Denken beeinträchtigt die Selbstdisziplin, breites, abstraktes und zukunftsbezogenes Denken fördert sie dagegen. Deshalb beherrschen sich religiöse Menschen besser und deshalb profitieren Nichtgläubige wie Stanley von einer Tugendethik mit hochfliegenden Idealen. Stanley verband seinen persönlichen Ehrgeiz immer mit einem Bedürfnis, »ein guter Mensch« zu sein, wie es seine imaginäre Mutter auf dem Sterbebett von ihm verlangt hatte. Wie Livingstone fand er seine Berufung, alser Zeuge der Verheerungen wurde, die arabische und ostafrikanische Sklavenhändler anrichteten. Von da an sah er es als seinen Auftrag an, dem Sklavenhandel ein Ende zu bereiten.
Was Stanley letztlich half, den Urwald und die Ablehnung durch seine Familie, seine Verlobte und das britische Establishment zu ertragen, war sein Glaube an seine »heilige Aufgabe«. So pathetisch das in unseren Ohren klingen mag, ihm war es ernst damit. »Ich wurde nicht auf die Welt gesandt, um glücklich zu sein«, schrieb er. »Ich wurde gesandt, um besondere Aufgaben zu übernehmen.« Während seiner Fahrt auf dem Kongo schrieb er sich selbst Ermahnungen wie »Ich hasse das Böse und liebe das Gute«. Am Tiefpunkt der Fahrt, nachdem zwei seiner engsten Vertrauten ertrunken waren, er selbst dem Hungertod nahe schien und es nicht so aussah, als würden sie je wieder etwas zu essen finden, tröstete er sich mit den erhabensten Gedanken, die ihm in diesem Moment einfielen:
Mein armer Körper hat furchtbar gelitten. Er ist erniedrigt, getreten, müde, krank und beinahe unter seiner Bürde zusammengebrochen. Aber dies ist nur ein kleiner Teil dessen, was ich bin. Mein wahres Ich liegt verborgen im Dunkeln und war stets zu erhaben und groß für diesen elenden Körper, der es täglich behinderte.
Gab Stanley in diesem Moment der Verzweiflung der Religion nach und stellte sich vor, dass er vielleicht doch so etwas wie eine unsterbliche Seele haben könnte? Vielleicht. Aber vor dem Hintergrund seines lebenslangen Kampfes und der Strategien, die er entwickelt hatte, um seine Kräfte in der Wildnis zu erhalten, hatte er vermutlich etwas Weltlicheres im Sinn. Sein »wahres Ich«, wie Bula Matari es sah, war sein Wille.
KAPITEL 8
HILFE VON HÖHEREN MÄCHTEN
Holy Mother, hear me cry
I’ve cursed your name a thousand times
I’ve felt the anger running through my soul
Holy Mother, can‘t keep control.
Eric Clapton
121
Wenn mir vor einem Jahr jemand gesagt hätte,
dass ich heute im Beichtstuhl knien und
meine Sünden murmeln oder dass ich den
Rosenkranz beten würde, dann hätte ich
mich scheckig gelacht.
Eher hätte ich noch gedacht,
dass ich als Stripperin, Spionin,
Drogenhändlerin oder
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