Die Macht der Disziplin
Gott, ein übermenschliches Wesen, das jede Tat sieht, die geheimsten Gedanken kennt und sichnicht hinters Licht führen lässt, wenn wir anscheinend Gutes aus den falschen Gründen tun. In einer bemerkenswerten Untersuchung von Mark Baldwin und seinen Kollegen lasen Studentinnen auf einem Computerbildschirm sexuell eindeutige Beschreibungen. Einigen wurde dabei unbewusst ein Foto des Papstes 138 gezeigt. Als sie danach Fragen beantworten sollten, bewerteten sich die katholischen Studentinnen negativer, vermutlich weil ihr Unbewusstes das Bild des Papstes gesehen hatte und sie sich dafür kritisierten, den Text gelesen und vielleicht sogar genossen zu haben.
Aber unabhängig davon, ob die Gläubigen an einen allwissenden Gott glauben oder nicht, sind sich die meisten sehr bewusst, dass sie von menschlichen Augen beobachtet werden: den anderen Mitgliedern ihrer religiösen Gemeinschaft. Wenn sie regelmäßig den Gottesdienst besuchen, empfinden sie einen Zwang, ihr Verhalten den Regeln und Normen der Gruppe anzupassen. Da sie selbst außerhalb der eigentlichen Gottesdienste viel Zeit mit anderen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft verbringen, haben sie das Gefühl, dass mögliches Fehlverhalten missbilligend zur Kenntnis genommen wird. Religionen fördern außerdem Rituale der Selbstbeobachtung, etwa die katholische Beichte oder das jüdische Fest Jom Kippur, bei denen die Gläubigen über ihre moralischen Fehltritte und Schwächen reflektieren.
Natürlich ist ein gewisses Maß an Selbstdisziplin erforderlich, um eine religiöse Praxis zu übernehmen, an Gottesdiensten teilzunehmen, Gebete zu lernen und Regeln zu befolgen. Wenn religiöse Menschen mehr Selbstdisziplin aufweisen, dann auch deshalb, weil die Gemeinden keine repräsentative Auswahl von Menschen darstellen und ihre Angehörigen von vornherein mehr Selbstdisziplin mitbringen als der Durchschnitt. Aber selbst wenn man diesen Faktor herausrechnet, lässt sich feststellen, dass Religion die Selbstdisziplin verbessert. Zu diesem Schluss kommen nicht nur Wissenschaftler, sondern auch die vielen Menschen, die sich einer Religion anschließen, weil sie ihr Leben besser in den Griff bekommen wollen. Andere Menschen entdecken in schwierigen Zeiten den Glauben ihrer Kindheit wieder, den siezwischenzeitlich abgelegt hatten. Diese religiösen Wiedererweckungen hängen oft mit der reuigen Erkenntnis zusammen, wenn sie richtig gelebt hätten, dann stünden sie nicht vor ihren heutigen Alkohol-, Drogen- oder Schuldenproblemen, doch hinter dieser Reue verbirgt sich häufig die Erkenntnis, dass die Disziplin der Religion ihnen hilft, wieder auf den richtigen Weg zu kommen.
Die Agnostikerin Mary Karr ergab sich so vollständig, dass sie sich taufen ließ und an den Exerzitien des Ignatius teilnahm, einer Reihe von strengen, zeitaufwändigen Gebeten und Meditationen. Nicht jeder kann und will diesen Weg gehen. Wenn Sie sich zum Katholizismus oder einer anderen Religion bekennen, nur um sich besser zu beherrschen, haben Sie vermutlich ohne echten Glauben wenig davon. Psychologen stellten fest, dass Menschen, die aus äußerlichen Gründen Gottesdienste besuchen, etwa weil sie andere beeindrucken oder soziale Beziehungen knüpfen wollen, nicht dasselbe hohe Maß an Selbstdisziplin aufweisen wie echte Gläubige. McCullough gelangte zu dem Schluss, dass die Selbstdisziplin der Gläubigen weniger von einer Furcht vor dem Zorn Gottes herrührt als von einem Wertesystem, das sie übernommen haben und das ihren persönlichen Zielen eine Aura der Heiligkeit verleiht.
Agnostikern rät er, ihre eigenen heiligen Werte zu formulieren. Das könnte ein Bekenntnis sein, anderen zu helfen, wie Henry Morton Stanley seine »heilige Aufgabe« darin fand, den Sklavenhandel in Afrika zu beseitigen. Es könnte ein Bekenntnis zur Fürsorge für andere Menschen, zur Verbreitung humanistischer Werte oder zum Erhalt der Umwelt für kommende Generationen sein. Vermutlich ist es kein Zufall, dass die Umweltbewegung in den Industrienationen besonders stark ist, wo die traditionellen Religionen im Rückzug begriffen sind. An die Stelle des Glaubens an Gott tritt eine Verehrung der Schönheit und Transzendenz der Natur. Die Forderung der Umweltschützer, Konsum und Umweltverschmutzung einzuschränken, vermittelt Kindern ähnliche Lektionen der Selbstdisziplin wie Katechismen und Predigten. Die Bewegung der Grünen scheint instinktiv eine Formder Selbstdisziplin durch eine andere zu ersetzen und eigene
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