Die Macht der Disziplin
Kindergärten legen großen Wert auf die Sauberkeit der Kinder und vermitteln schon früh verschiedene Formen der Impulskontrolle. Schätzungen zufolge verfügen chinesischstämmige Kinder im Alter von zwei Jahren bereits über ein Maß an Selbstbeherrschung, wie es die übrigen amerikanischen Kinder erst mit drei oder vier Jahren erreichen.
Ein klarer Unterschied zeigt sich, wenn amerikanische und chinesischstämmige Kinder aufgefordert werden, ihre natürlichen Impulse zu unterdrücken. In einem Test sehen Kinder beispielsweise eine Reihe von Bildern und sollen »Tag« sagen, wenn sie den Mond sehen, und »Nacht«, wenn sie die Sonne sehen. In anderen Tests sollen Kinder flüstern, wenn sie erregt sind, oder eine abgewandelte Form von »Alle Vögel fliegen hoch« spielen, bei dem sie bestimmte Befehle befolgen und andere ignorieren müssen. Bei sämtlichen Tests schneiden vierjährige Chinesen deutlich besser ab als gleichaltrige amerikanische Kinder. Diese überlegene Selbstdisziplin der chinesischstämmigen Kinder könnte bereits in den Genen angelegt sein – es gibt beispielsweise Hinweise, dass die Genkombinationen, die mit dem Symptom der Aufmerksamkeitsstörungen einhergehen, bei chinesischen Kindern deutlich seltener vorkommen. Doch die kulturellen Traditionen in China und anderen asiatischen Ländern spielen zweifellos ebenfalls eine wichtige Rolle beim Erwerb der Selbstdisziplin und tragen dazu bei, dass asiatischstämmige Kinder in den Vereinigten Staaten weniger vom Narzissmus betroffen und später erfolgreicher sind. Asiaten 147 machen nur rund 4 Prozent der Bevölkerung der Vereinigten Staaten aus, doch sie stellen ein Viertel aller Studenten an Eliteuniversitäten wie Stanford, Columbia oder Cornell. Sie schließen ihr Studium mit größerer Wahrscheinlichkeit ab als die Angehörigen anderer ethnischer Gruppierungen und verdienen bis zu 25 Prozent mehr als der Landesdurchschnitt.
Aufgrund dieses Erfolgs ist das Vorurteil verbreitet, Asiaten seien intelligenter als Amerikaner und Europäer, aber James Flynn hat eine andere Erklärung für dieses Phänomen gefunden. Nach einersorgfältigen Auswertung von IQ-Messungen stellte er fest, dass sich chinesisch- und japanischstämmige Amerikaner kaum von europäischstämmigen Amerikanern unterscheiden. Wenn überhaupt, dann weisen sie eher einen niedrigeren Intelligenzquotienten auf. Der eigentliche Unterschied besteht darin, dass sie ihre Intelligenz besser nutzen. Ärzte, Wissenschaftler, Steuerberater und andere Elitebranchen haben in der Regel einen Mindest-IQ. Für europäischstämmige Amerikaner liegt dieser bei 110, aber chinesischstämmige Amerikaner bekommen bereits mit einem Intelligenzquotienten von 103 Zugang zu diesen Berufen. Außerdem erhalten chinesischstämmige Amerikaner oberhalb dieser Schwelle eher eine Anstellung, was bedeutet, dass ein Amerikaner chinesischer Herkunft mit einem Intelligenzquotienten von über 103 eher in einer Elitebranche Fuß fasst als ein Amerikaner europäischer Herkunft mit einem Intelligenzquotienten von über 110. Dasselbe gilt für Amerikaner japanischer Herkunft. Dank ihrer Selbstdisziplin – Fleiß, Ausdauer und Verlässlichkeit – haben Kinder von Einwanderern aus Ostasien genauso viel Erfolg wie europäischstämmige Kinder mit höherem Intelligenzquotienten.
Der Aufschub von Befriedigung ist ein bekanntes Thema in Einwandererfamilien wie der von Jae und Dae Kim, die in Südkorea zur Welt kamen und im amerikanischen Bundesstaat North Carolina zwei Töchter aufzogen. Ihre Tochter Soo wurde Chirurgin, ihre Tochter Jane Anwältin. Zusammen verfassten die Schwestern ein Buch mit dem Titel
Top of the Class
(zu Deutsch etwa »Die Klassenbesten«), ein Erziehungsratgeber für asiatischstämmige Eltern, die ihre Kinder zu Höchstleistung erziehen wollen. 148 In diesem Buch beschreiben sie, wie ihre Eltern ihnen vor dem zweiten Geburtstag das Alphabet beibrachten und dass ihre Mutter niemanden belohnte, der im Supermarkt um Süßigkeiten bettelte. Ehe ihre Kinder an der Kasse quengeln konnten, verkündete Mrs. Kim, wenn jede der beiden in der kommenden Woche ein Buch läse, dann würde sie ihnen einen Schokoriegel kaufen – nächste Woche. Als Soo studierte und ihre Eltern bat, ihr einen billigen Gebrauchtwagen zu kaufen, schlugen sie ihr dieBitte ab und boten ihr stattdessen an, ihr einen Neuwagen zu schenken, wenn sie die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium bestand. Die Eltern verwöhnten ihre Töchter durchaus
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