Die Macht der Disziplin
später räumte er jedoch ein, die wissenschaftliche Beweislage sei noch immer »enttäuschend« – doch dieses Zugeständnis hörte die Presse schon nicht mehr. Außerdem erklärte Smelser, er erwarte mehr Erkenntnisse, wenn mehr zum Selbstbewusstsein geforscht werde. Für diese Studien wurden reichlich Mittel zur Verfügung gestellt, und kurz darauf gab eine weitere Einrichtung einen Bericht in Auftrag. Diesmal handelte es sich nicht um eine politische, sondern um eine professionelle Einrichtung, die Association for Psychological Science. Die Ergebnisse werden allerdings weder Whitney Houston noch Lady Gaga zu neuen Hits inspirieren.
Vom Selbstbewusstsein zum Narzissmus
Das Gremium, das von der Association for Psychological Science einberufen wurde und dem auch Baumeister angehörte, wertete TausendeVeröffentlichungen der Selbstbewusstseinsforschung 143 aus und fand einige Hundert, die den Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügten. Eine Untersuchung begleitete Schüler einige Jahre lang und stellte tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Selbstbewusstsein und schulischen Leistungen fest. Tatsächlich brachten Schüler mit größerem Selbstbewusstsein bessere Noten nach Hause. Aber was war das Huhn und was das Ei? Bekamen die Kinder gute Noten, weil sie selbstbewusst waren, oder waren sie selbstbewusst, weil sie gute Noten bekamen? Es stellte sich heraus, dass sich aus den Noten in der 10. Klasse das Selbstbewusstsein in der 12. Klasse vorhersagen ließ, aber das Selbstbewusstsein in der 10. Klasse stand in keinem Zusammenhang mit den Noten in der 12. Klasse. Das heißt, dass zuerst die Noten kamen und dann das Selbstbewusstsein.
In einer anderen wissenschaftlich sauberen Untersuchung versuchte Donald Forsyth von der Virginia Commonwealth University das Selbstbewusstsein der Teilnehmer seines Psychologiekurses aufzupolieren. 144 Einigen der Studenten, die in der Zwischenprüfung mit »befriedigend« oder schlechter bewertet worden waren, schickte er wöchentlich ihr Selbstbewusstsein aufbauende Nachrichten, anderen mit denselben Noten schickte er neutrale Nachrichten. Die wöchentlichen Motivationsübungen wirkten sich zwar positiv auf das Selbstbewusstsein der Studenten aus, aber nicht auf ihre Noten – im Gegenteil. In der Abschlussprüfung schnitten sie nicht nur schlechter ab als die Kontrollgruppe, sondern sie verschlechterten sich sogar noch gegenüber ihrer Zwischenprüfung. Die Durchschnittsnote dieser Gruppe fiel von 59 auf 39 Prozent – also von ausreichend auf ungenügend.
Andere Studien aus dem ganzen Land gelangten zu ähnlichen Ergebnissen: Die Kinder wurden selbstbewusster, doch ihre Leistungen nahmen ab. Sie brachten schlechtere Noten nach Hause, aber fühlten sich besser. In seinen eigenen Untersuchungen ging Baumeister der Frage nach, warum Menschen, die furchtbare Dinge tun – zum Beispiel Auftragsmörder oder Serienvergewaltiger – oft ein erstaunliches Selbstbewusstsein an den Tag legen.
Nach einer Auswertung der wissenschaftlichen Literatur kam das Gremium zu dem Schluss, dass von einer Epidemie von mangelndem Selbstbewusstsein keine Rede sein konnte, zumindest nicht in den Vereinigten Staaten, Kanada und Westeuropa. Die meisten Menschen sind recht zufrieden mit sich selbst. Vor allem Kinder sehen sich selbst ausgesprochen positiv. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse passen gut zu dem, was Baumeister selbst zu Hause erlebt hat, wo sich Szenen wie die folgende abspielten:
TOCHTER (4 Jahre alt): »Ich weiß alles!«
MUTTER: »Nein, mein Schatz, du weißt nicht alles.«
TOCHTER: »Doch, ich weiß alles.«
MUTTER: »Du weißt nicht, was die Wurzel von 36 ist.«
TOCHTER: »Ich halte alle großen Zahlen geheim.«
MUTTER: »Es ist keine große Zahl. Es ist 6.«
TOCHTER: »Das habe ich gewusst.«
Und das war die Tochter von Eltern, die es nicht darauf anlegten, ihr Selbstbewusstsein zu fördern.
Das Psychologengremium gelangte ebenfalls zu dem Schluss, dass Menschen mit einem größeren Selbstbewusstsein nicht unbedingt effektiver oder umgänglicher sind. Sie halten sich zwar generell für beliebter, charmanter und sozial kompetenter als andere, aber objektive Untersuchungen konnten diesen Unterschied nicht feststellen. Das Selbstbewusstsein steht in keinem Zusammenhang mit Leistungen in der Schule oder am Arbeitsplatz und trägt nicht dazu bei, Nikotin-, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder sexuelle Aktivitäten unter Jugendlichen zu verhindern. Es besteht zwar ein
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