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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roy Baumeister
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Haaren, werfen mit Tassen, beschmieren die Bettbezüge, zerstören Spielsachen, schlagen ihre Eltern und würgen ihre Geschwister. In einem Vorort von St. Louis gehen die Kinder zu Beginn einer Folge von
Nanny 911
buchstäblich die Wände hoch. In diesem Moment tritt das britische Kindermädchen in viktorianischem Kostüm – schwarzer Rock, schwarze Nadelstreifenweste, schwarze Strumpfhose, weinroter Hut und ein passendes Cape mit goldenen Knöpfen und Kette – auf den Plan und ruft: »Eltern von Amerika, die Rettung ist nah!«
    Wie konnte es nur so weit kommen?
    Man könnte meinen, diese Sendungen übertrieben die Ungezogenheiten der Kinder. Doch die Produzenten erklären, weil die Sendung zur besten Sendezeit ausgestrahlt werde, dürften sie die schlimmsten Szenen gar nicht zeigen, etwa wenn ein Vierjähriger an der Frau hochblickt, die ihn zur Welt gebracht hat, und schreit: »Verpiss dich, Mama!« Was ist da schiefgegangen? Die Versuchung ist groß, mit den Fingern auf die Eltern zu zeigen. Aber man kann es den Eltern nicht verübeln, dass sie Hilfe suchen. Sie können diese Flegel nicht allein hervorgebracht haben. Sie hatten eine Menge Unterstützung von prominenten Erziehern, Journalisten und vor allem Psychologen.
    Die Theorie des Selbstbewusstseins war ein gut gemeinter Versuch, die Erkenntnisse der Psychologie zum Wohl der Gesellschaft zu nutzen, und zunächst schien sie auch sehr vielversprechend. Zu Beginn seiner Laufbahn sprang auch Baumeister auf den Zug des Selbstbewusstseins auf. Er war beeindruckt von Untersuchungen, die zu belegen schienen, dass selbstbewusste Kinder gute Noten nach Hause brachten, während weniger selbstbewusste in der Schule zu kämpfen hatten. Andere Studien zeigten, dass alleinerziehende Mütter, Drogensüchtige und Kriminelle unter mangelndem Selbstbewusstsein litten. Der Zusammenhang war zwar nicht groß, aber immerhin statistisch signifikant. Ergebnisse wie diese beflügelten eine Bewegung unter der Führung von Psychotherapeuten wie Nathaniel Branden. »Es gibt kein psychisches Problem – ob Angst, Depression, Beziehungsangst, häusliche Gewalt oder Kindesmissbrauch –, das nicht auf mangelndes Selbstbewusstsein zurückzuführen ist«, schrieb Branden. 141 Andrew Mecca, Drogentherapeut und späterer Vorsitzender von Kaliforniens Selbstbewusstseins-Task-Force, erklärte, dass »fast jedes gesellschaftliche Problem auf einen Mangel an Eigenliebe zurückzuführen ist«. Aus dieser Begeisterung entstand eine neue Erziehungsphilosophie, die von Psychologen, Lehrern und Journalisten euphorisch propagiert wurde. Die Grundidee lässt sich im Hit »The Greatest Love of All« von Whitney Houston aus den achtziger Jahren zusammenfassen: Meine größte Liebe bin ich selbst. Der Schlüssel zum Erfolg war das Selbstbewusstsein. Wenn Kinder Erfolg haben sollen, müssen sie »ihre innere Schönheit« erleben.
    Millionen Eltern und Lehrer konnten der Idee nicht widerstehen und versuchten die schulischen Leistungen ihrer Kinder zu verbessern, indem sie ihnen vorbeteten, sie seien intelligent. Die Eltern lobten grundsätzlich alles. Im Schulsport bekamen plötzlich alle einen Preis, nicht nur die Sieger. Die Girl Scouts legten sich den Slogan »Ich bin einmalig« zu. In den Schulen machten Kinder Collagen mit den Eigenschaften, die sie am liebsten an sich mochten, und diskutierten, was ihnen aneinander gefiel. »Gesellschaft für gegenseitigen Applaus«war einmal ein Witz, aber für die jungen Erwachsenen von heute ist es die gesellschaftliche Norm. Lady Gaga griff die Botschaft von Whitney Houston auf und versicherte ihren Fans in einem Konzert: »Du bist ein Superstar, egal wer du bist oder wo du herkommst – so bist du zur Welt gekommen!« Die Fans jubelten, Lady Gaga nahm einen Scheinwerfer und richtete ihn auf das Publikum. »Wenn ihr heute Abend nach Hause kommt, dann sollt ihr nicht mich mehr lieben, sondern euch selbst!«
    Diese Übungen zur Selbstbestätigung sind natürlich angenehm, und angeblich bewirken sie langfristig sogar mehr als konventioneller Schulunterricht. Als der Bundesstaat Kalifornien Wissenschaftler aufforderte, die Bedeutung des Selbstbewusstseins zu überprüfen, erschienen die Ergebnisse vielversprechend. Der renommierte Soziologe Neil Smelser 142 , der den Bericht herausgab, erklärte gleich auf der ersten Seite, »viele, vielleicht die meisten der Probleme unserer heutigen Gesellschaft haben ihren Ursprung im mangelnden Selbstbewusstsein«.
    Ein paar Seiten

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