Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
selbstverständlich, dass jeder ohne Kontrolle die vereinbarten Zeiten und Wege einhielt.
Wer diesem Anspruch genügte, gehörte zur Elite. Der unbedingte Wunsch, ihr anzugehören, war das Korsett, das die Schüler in ihrer Moral stützte; zugleich übte der Elitegedanke einen Zwang aus, dem junge Menschen nicht entfliehen konnten. Inwieweit ehrliches Verhalten einer freien Entscheidung oder dem Gruppendruck der elitären Gemeinschaft zu verdanken war, ließ sich schwer ausmachen.
Dieser Ehrenkodex rief in Salem eine Art Terror der Tugend hervor, aber nicht ausgeübt von Erwachsenen, sondern von Gleichaltrigen. Ihre Kontrolle war lückenloser und unbarmherziger als die Kontrolle von oben. Sie führte außerdem zu einer strengen Selbstkontrolle. Es gab Schüler, die die Forderung der Ehrlichkeit gegen sich selbst ganz und gar verinnerlichten.
Das erzählte mir ein ehemaliger Schüler, der Salem besuchte, als Kurt Hahn Leiter war. »Sie müssen sich einmal vorstellen, Herr Bueb, welche Folgen es für mein Selbstbild hatte, wenn ich monatelang jeden Abend nur Minuszeichen eintragen konnte. Ich brachte den Mut nicht auf, ehrlich über mein Versagen zu sprechen.« Die Ehrlichkeit erzeugte Unehrlichkeit.
Ehrlichkeit ohne Mut und Tatkraft taugte in den Augen der Gründer wenig. Jeder sollte tun, was er verkündete. Jeder sollte in seinem Umfeld und im Leben seines Gemeinwesens für Wahrhaftigkeit kämpfen. Schüler sollten daher die »Fähigkeit« erwerben, »das als Recht Erkannte durchzusetzen: gegen Unbequemlichkeiten, gegen Strapazen, gegen Gefahren, gegen Hohn der Umwelt, gegen Langeweile, gegen Skepsis, gegen Eingebungen des Augenblicks.« Die Mentoren, so hießen die Lehrer, die zugleich Erzieher waren, sollten in einem »abschließenden Bericht an die Eltern«, der dem Abschlusszeugnis beigefügt wurde, explizit dazu Stellung nehmen, ob ihre Schüler ehrlich und mutig gehandelt hatten oder eben nicht.
Wir suchten in den 1980er Jahren, ein paar Jahre, nachdem ich die Leitung von Salem übernommen hatte, nach einer Formel, um die Leitgedanken der Gründer Schülern, Lehrern, Eltern und auch der Öffentlichkeit kurz und griffig präsentieren zu können.
Die Gründer waren den Einsichten der Reformpädagogik gefolgt, dass das Lernen durch Erfahrung dem Lernen durch Belehrung überlegen sei. Politisch handeln lernen Jugendliche nicht durch Belehrung im Unterricht, so befanden sie, sondern durch Learning by doing . Erziehung zu Verantwortung durch Beteiligung an der gemeinsamen Regelung des Zusammenlebens, durch Schülermitverantwortung – so stellten sie sich den Weg vor, auf dem Schüler politisch denken und handeln lernten.
Zu den Tugenden Wahrheitsliebe und Mut mussten wir daher lediglich Gemeinsinn hinzufügen, um die Trias von Tugenden zu vervollständigen, die den politischen Menschen ausmacht und Schülern als Leitidee dienen sollte. Die neue Formel lautete also: »Wahrheitsliebe, Mut und Gemeinsinn.« Unehrlichkeit, Feigheit und Egoismus waren Ende des 20. Jahrhunderts so verbreitet wie zu seinem Beginn. Deswegen ist Kurt Hahns Pädagogik auch heute noch aktuell.
Prinz Max von Baden und Kurt Hahn glaubten an »die Versöhnbarkeit von Ethik und Politik« und an die »Vereinbarkeit von Macht und Recht«, so charakterisierte Golo Mann ihr politisches Credo im Vorwort zu den Erinnerungen von Prinz Max: »Der würde den Machtkampf gewinnen, der menschliche Ziele ehrlich – aber nicht bloß demagogisch – mit nationalen verband und der der Bessere war …« 2
Die Pädagogik der Gründer entwickelte sich aus ihrem Charakter. Anstand bildete die Maxime ihres Handelns. Als Bismarck 1890 nach seinem Sturz als Kanzler vom Lehrter Bahnhof nach Friedrichsruh abreiste, so berichtet Golo Mann, erschien Prinz Max, damals dreiundzwanzig Jahre alt, als einziger der deutschen Fürsten, um den gestürzten Kanzler zu verabschieden. Diese Geste zeigt seine noble und couragierte Haltung, nämlich Größe ehrlich durch öffentliches Auftreten anzuerkennen, auch wenn die Mächtigen des Landes sich – vielfach gegen ihre Überzeugung – dazu nicht bereitfanden. Vornehm war die Haltung des Prinzen, Höflichkeit des Herzens charakterisierte sein Handeln. Die Gründer folgten ihren Einsichten, sie kannten nicht den »Hiatus zwischen Einsicht und Tatkraft«, den Kurt Hahn den Intellektuellen vorwarf, ihnen war aber auch die Gewissenlosigkeit der politisch Handelnden fremd.
Kurt Hahn selbst ging diesen Weg. Er exponierte
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