Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
betrog. Er sah darin aber seine einzige Überlebenschance. Sein schulischer Alltag wurde von der zusätzlichen Sorge belastet, seine Mogelei könnte auffliegen.
Sein Verhalten war nicht originell. Er folgte einem Brauch, den Generationen von Schülern gepflegt hatten. Die einen schummelten aus Angst wie er, andere machten daraus einen Sport. Die Gewohnheit, abzuschreiben und abschreiben zu lassen, entwickelte eine eigene Ethik. Ein Streber kann sein Image verbessern, wenn er großzügig abschreiben lässt; ihm wird dann verziehen, dass er durch sein angepasstes Verhalten die Preise verdirbt. Wer abschreibt, muss den Eindruck vermeiden, dass er nur zu faul ist und deswegen als Parasit betrachtet wird. Man muss Hilfsbedürftigkeit durch andere Tugenden kompensieren, um erfolgreich abschreiben zu können.
Er brachte es zu einiger Fertigkeit, die richtige Mitte zu finden. Er konnte in keinem Fach Hilfe bieten, weil er überall schlecht war. Er wurde aber gern gelitten, weil er zuhören und geschickt bei Streitigkeiten vermitteln konnte. Außerdem dosierte er klug seine Anfragen um Gefälligkeiten.
Dieser Schüler war ich.
Schule ist ein Abbild der Gesellschaft. Sie verspricht Gerechtigkeit – gerechte Lernbedingungen, gerechte Förderung und gerechte Leistungsbewertung –, erzeugt aber fortwährend Ungerechtigkeit. Denn Gleichbehandlung gilt in der verwalteten Schule als Gerechtigkeit, weil sie von der Prüfungsordnung her denkt. Dächte sie vom Schüler her, würde sie jeden Schüler seiner individuellen Begabung und Situation gemäß behandeln. Sie verführt daher Schüler, die durch die Gleichbehandlung entstehenden Nachteile durch Betrug wettzumachen.
Nicht nur Ungerechtigkeit versuchen Schüler auszugleichen. Schule ist leider oft ein Ort der Langeweile, der Fremdbestimmung, sie erzeugt Angst, sie grenzt aus oder tötet die natürliche Neugier von Kindern. Fortwährend versuchen Schüler, durch Schummeln und Mogeln Arbeit zu vermeiden. Sie entwickeln Strategien, um ungeliebte Inhalte der Lehrpläne zu umgehen, sie täuschen die Erfüllung von Pflichten vor und schwänzen Unterricht. Sie erfinden phantasievolle Ausreden, um sich nicht anstrengen zu müssen, gaukeln Lehrern Interesse vor und schlagen vor allem der Langeweile ein Schnippchen, indem sie phantasievoll das System austricksen. Das Internet hat neue Dimensionen des Betrugs geschaffen. Es ist ein praktisches Medium, mit dem Schüler die Ungleichheiten der Begabungen durch das Plagiieren von Texten kompensieren. Das Unrechtsbewusstsein tendiert dabei gegen null.
Das ist übrigens eine häufige Wirkung von Schule: Jugendliche lernen nicht das, was die Lehrpläne vorsehen, aber sie erwerben nützliche Fertigkeiten für ihr künftiges Leben. Sie lernen, den Zweck von Schule ins Gegenteil zu verdrehen. Das macht sie lebenstüchtig. Oder wie Bertolt Brecht es in seinem Buch Flüchtlingsgespräche formulierte: »Der Schüler lernt alles, was nötig ist, um im Leben vorwärts zu kommen. Es ist dasselbe, was nötig ist, um in der Schule vorwärts zu kommen. Es handelt sich um Unterschleif, Vortäuschung von Kenntnissen, sich ungestraft zu rächen, schnelle Aneignung von Gemeinplätzen, Schmeichelei, Unterwürfigkeit, Bereitschaft, seinesgleichen an die Höherstehenden zu verraten usw. usw.« 3
Allerdings lernen junge Menschen auch nützliche Fertigkeiten, die im Lehrplan nicht vorgesehen sind. Es gehörte zu meinen Aufgaben als Leiter von Salem, wohlhabende Menschen davon zu überzeugen, Geld für Stipendien zu stiften. Die Fähigkeit, mir Menschen gefällig zu machen, hatte ich eingeübt, als ich in der Schule Mitschüler gewinnen musste, geistiges Eigentum an mich abzugeben.
So wie Schule heute noch arbeitet, bereitet sie junge Menschen auf eine Gesellschaft vor, die voller Lug und Trug ist. Die Schüler erfahren im Schulalltag, dass der Ehrliche der Dumme ist. Die Praxis des Lügens und Betrügens in der Schule lässt sich erklären. Schule beruht schon immer auf der Vorstellung, dass alle gleich begabt, gleich selbstdiszipliniert, gleich neugierig und gleich psychisch stabil sind. Daraus ergibt sich die weitere Fiktion, dass alle, die von denselben Lehrern und nach denselben Methoden unterrichtet werden, dieselben Prüfungen bestehen können. Aber nur ein Teil der Schüler erfüllt die Erwartungen. Andere scheitern, weil ihre Begabung, ihr Lerntempo oder ihre Vorbildung den Anforderungen nicht entspricht. Da die Schule auf »Andersartigkeit« keine
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