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Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Titel: Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Bueb
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kleinen Gerichtshof. Es gab Angeklagte, Kläger und Verteidiger. Richter blieben die Erwachsenen. Wir dürfen Schüler nie in die Lage versetzen, über Mitschüler richten zu müssen.
    Diese Gremien tagten häufig. Es gab leider viele Anlässe, die Wahrheit herausfinden zu müssen. Schüler lieben es, Streiche zu planen oder Abenteuer zu erleben. Nachts aus dem Fenster auszusteigen und das Internatsgelände zu verlassen galt als Mutprobe. Meistens waren die Unternehmungen harmlos, manchmal aber auch nicht. Eines Morgens erhielt ich einen Anruf, dass Schüler nachts in die Disco einer benachbarten Stadt gefahren waren und sich dort nicht gut benommen hatten. Wer war beteiligt? Wer war der Anführer? Es begann ein Prozess der Wahrheitsfindung.
    Oder ein Schüler wurde ausgegrenzt, ein regelmäßig wiederkehrendes Phänomen in Gemeinschaften von Jugendlichen. Wer steuerte die Ausgrenzung, wer beteiligte sich, wer wusste davon und griff nicht ein?
    Diebstähle aufzuklären war deswegen so entscheidend, weil es die Stimmung der Schüler drückte, wenn sie ihre Sachen nicht mehr offen im Zimmer liegen lassen konnten. Es war weniger das Eigentumsdelikt, das sie aufregte, es war der Vertrauensverlust in der Gemeinschaft. Wir scheuten keine Mühe und keinen Aufwand, um die jungen Menschen zu bewegen, genau zu antworten und ehrlich zu ihren Taten zu stehen.
    Unsere besten Mitstreiter für die Wahrhaftigkeit waren die Schülervertreter in den »Gerichtshöfen«, die ausdauernd, mal geschickt, mal weniger geschickt, die Täter zu bewegen suchten, sich freiwillig zu ihrer Tat zu bekennen. Wir verlangten nie, dass ein Schülervertreter den Namen eines Täters mitteilte, wenn er ihn kannte.
    Dieses wöchentliche Ringen um die Wahrheit hatte eine ebenso starke Wirkung auf die Haltung der jungen Menschen wie die praktizierte Ehrlichkeit der frühen Jahre. Das alte Salem war eine Insel gewesen. Golo Mann sagte mir einmal, er und seine Mitschüler seien damals zu idealistisch erzogen und zu wenig auf das Böse in der Welt vorbereitet worden. Das neue Salem bereitete realistischer auf das Leben vor. Die Schüler erfuhren aber im alten und im neuen Salem, dass es lohnt, sich um Ehrlichkeit zu bemühen und sich für das für Recht Erkannte einzusetzen – auch wenn sie dabei immer wieder scheitern. Scheitern galt im alten Salem als ein Versagen, das sich ein Mitglied der Elite nicht leisten durfte, im neuen Salem durfte ein Schüler scheitern und dieses Scheitern zum Anlass nehmen, besser zu werden.
    Es gibt Bereiche, in denen wir die Bemühung um Ehrlichkeit von Schülern überfordern. Der Umgang mit ungesetzlichen Drogen ist ein solcher Fall. Kriminelle Machenschaften sprengen den Horizont jugendlicher Charakterstärke. Selbst Erwachsene können sie kaum aufbringen, vor allem wenn die Ursache von Drogenkonsum in psychischer Labilität zu suchen ist. Deswegen haben wir bei Drogen auf Kontrolle gesetzt.
    Salem wird immer stark bleiben, wenn es den Primat der Charakterbildung gegenüber der akademischen Bildung wahrt und dem Lernen durch Erfahrung mehr Raum gibt als dem Lernen durch Belehrung. Junge Menschen in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken und sie darin zu üben, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen und das für Recht Erkannte durchzusetzen, ist in meinen Augen die zeitlose Botschaft der Gründer Salems und bleibt Salems Botschaft auch in Zukunft. Nur so können die Schüler erfahren, dass die Voraussetzung für ein gutes Leben Ehrlichkeit ist.

    1 Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente , Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1968, S. 10.
    2 Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente , Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1968, S. 26.

Warum Schule zum Lügen verführt
    Wenn ich mir unser Schulsystem heute ansehe, komme ich zu dem Schluss: Wer als ehrlicher Mensch die Schule verlassen will, muss sie als ehrlicher Mensch betreten. Denn die Schule lehrt nicht nur die Inhalte der Lehrpläne. Sie hält geheime Lehrpläne bereit, die anderes lehren als die offiziellen Vorgaben. Sie lehrt, wie man lügt und betrügt.
    Ein Junge rang jahrelang in der Mittelstufe des Gymnasiums ums Überleben. Mathematik drohte zum Sargnagel zu werden. Da weder Nachhilfe noch Angst vor einer drohenden Nicht-Versetzung seine Leistungen steigerten, beschloss er, seine schulischen Probleme anderweitig zu lösen. Ein- oder zweimal pro Woche kam er früher zur Schule, um die Hausaufgaben von einem Mitschüler abzuschreiben. Ihm war klar, dass er

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