Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
überraschen müsse. Die Klinik entsprach seiner Forderung, ohne einen Richter einzuschalten. Leider geschieht so etwas immer wieder.
Wir konnten seine Lügen als Lügen entlarven. Wir kannten unseren Kommilitonen, wir kannten auch seine »Spinnereien«, wir wussten aber auch, dass sein Vater, der ein leitender Mitarbeiter der evangelischen Kirche war, unkonventionelles Denken als »sündiges« Verhalten interpretierte und der Ansicht war, die Lektüre von Hegels Schriften habe seinen Sohn vom christlichen Weg abgebracht. Darüber hinaus scheute er sich nicht, Geschichten über ihn zu erfinden, die er nicht beweisen konnte. Dem Sohn glaubte sowieso niemand mehr, weil er ja in der geschlossenen Anstalt saß.
Für mich war diese »Befreiung« unseres Freundes die erste Konfrontation mit einer mächtigen Lüge. Das gesellschaftliche Vertrauen, das der Vater aufgrund seines Amtes genoss, verlieh seinen Lügen Macht. Die von ihm gerufenen Sanitäter hatten keine Veranlassung, ihm zu misstrauen. Doch die Klinikleitung hätte natürlich am Tag danach einen Richter einschalten müssen. Das hatte man unterlassen, wie uns mitgeteilt wurde.
Die Folge der mächtigen Lüge: Den Sohn hat dieser Vorfall traumatisiert. Sein Selbstvertrauen, das ohnehin durch die autoritäre Erziehung des Vaters stark angekratzt war, hatte er nun endgültig verloren. Die Einlieferung in die Klinik hatte ihn zu einem psychopathischen Fall gemacht.
Meine erste Begegnung mit der Macht der Lüge verlief glimpflich, weil demokratische Verhältnisse mich die Macht der Aufklärung erfahren ließen. Aber welche psychischen Folgen hätte diese Begegnung gehabt, wenn ich in einem unfreien Land eine Niederlage erlitten hätte?
Autoritäres Verhalten von »Mächtigen«, seien es Eltern, Lehrer, Schulleiter, Vorstandsvorsitzende oder Regierungschefs, beruht immer auf Lügen. Sie können ihren Machtanspruch nur durchsetzen, wenn sie sich selbst belügen und wenn sie die belügen, über die sie herrschen. Sie wollen und müssen immer recht haben, sie geben sich so, als ob sie im Besitz der Wahrheit wären. Auf Argumente ihrer Untergebenen zu hören würde ihre Macht relativieren. Das Leiden an den Folgen der Lügen von autoritärer Herrschaft ist das häufigste von Menschen gemachte Leiden und ist ebenso verbreitet in gemeinnützigen Einrichtungen wie in Einrichtungen der Wirtschaft, aber auch in Familien und Ehen.
Das folgende Beispiel stammt aus einer ganz normalen öffentlichen Schule. Lehrer und Schüler freuten sich täglich, ihre Schule besuchen zu dürfen. Sie waren der Überzeugung, hier erfolgreich lehren und lernen zu können. Sie identifizierten sich mit den Zielen der Schule, sie waren darin geübt, Verantwortung zu übernehmen und selbständig zu arbeiten, weil gegenseitiges Vertrauen herrschte und alle gewohnt waren, ehrlich und offen zu informieren. Ein neuer Direktor wurde berufen. Schleichend veränderte sich das Klima. Selbständiges Denken galt nicht mehr als Tugend, Anpassung an Vorgaben von oben wurde erwartet, aber vor allem erkannten die Lehrer nicht mehr, wohin der neue Direktor die Schule führen wollte. Lügen, Halbwahrheiten und unklare Informationen führten zu Gerüchten und schürten Ängste. Der neue Direktor formulierte seinen klaren Anspruch, allein zu bestimmen. Fragen waren nicht erwünscht. Es fanden sich genügend Gefolgsleute, die seinen Führungsstil unterstützten, weil er ihnen kleine Machtpositionen garantierte. Die Lüge kam auf leisen Sohlen, nicht platt und für jeden erkennbar.
Die eigentlich beunruhigende Veränderung war die Veränderung der Mitarbeiter. Manche trugen sich mit dem Gedanken, die Schule zu verlassen. Gespräche mit der staatlichen Schulaufsicht verliefen im Sand, denn diese billigte ausdrücklich den autoritären Führungsstil des Direktors. Mitarbeiter, die sich ihm nicht anpassten, ja öffentlich Fragen stellten, fanden nur wenige Verbündete. Die Guten und Aufrichtigen verhielten sich still, die Mehrzahl kehrte zum business as usual zurück und duckte sich in die Furche, hoffend, dass der Fuchs vorüberzöge. Freundschaften brachen auseinander. Die Heiterkeit unbeschwerter Offenheit ging verloren.
Dieses Modell wiederholt sich unglaublich häufig überall dort, wo Menschen ihre Macht über andere festigen wollen. Wenn sich einmal eine autoritäre Herrschaft etabliert hat, dann hat öffentlich vorgetragener Widerstand wenig Aussicht auf Erfolg, weil sich in der Regel die meisten Menschen einer
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