Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
nützt oder schadet. Ein Konflikt zwischen dem Wert der Wahrhaftigkeit und dem Wert des Nutzens für eigene Interessen wird als ein Konflikt zwischen ebenbürtigen Werten angesehen. Das hat zu einem inflationären Gebrauch von Notlügen geführt.
In seiner erfolgreichen Kolumne »Gewissensfrage«, die wöchentlich im Magazin der Süddeutschen Zeitung erscheint, beantwortet Rainer Erlinger Leserfragen, die sich mit Konflikten zwischen einem moralischen Wert und Eigeninteressen beschäftigen wie etwa in diesem Beispiel: »Auf einem Erdbeerfeld zum Selberpflücken zahlt man, wenn man fertig ist, für die Menge an Erdbeeren, die man mitnimmt. … Kürzlich hatten wir nun eine Diskussion, ob es unmoralisch wäre, sich dort den Magen vollzuschlagen und dann nur eine kleine Menge zu kaufen.« 4 Interessant an dieser Frage ist, dass sie gestellt wird. Sie zeugt vom Niedergang moralischen Denkens. Der Erdbeerbauer vertraut auf die Ehrlichkeit der Käufer. Und der Käufer entdeckt einen moralischen Konflikt, bei dem es sich in Wahrheit um Missbrauch von Vertrauen handelt.
Unbekümmert wird Krankheit vorgeschoben, um unliebsame Termine nicht wahrnehmen zu müssen oder um das Versäumnis von Pflichten zu rechtfertigen. Wer beim Zoll, im Verkehr, in der Bahn, vor dem Finanzamt oder in der Schule lügt, setzt den Wert des Nutzens für sich höher an als den Wert der Wahrhaftigkeit und damit das Gemeinwohl. Wer intelligent mogelt oder trickst, so lauten die euphemistischen Bezeichnungen solcher Lügen, entgeht der Strafe; der Dummkopf zahlt. Rechtlich gelten solche Verfehlungen als Ordnungswidrigkeiten, sie sind kein strafrechtlicher Tatbestand. Ein wegen zu schnellen Fahrens bestrafter Bürger, der dies auch noch leugnet, verliert daher nicht an Ansehen. Es herrscht das Gesetz von Kontrolle und Strafe. Es ist dann konsequent, alle Handlungen nach den Kriterien Nutzen und Schaden zu bewerten. Je genauer die Kontrollen und je messbarer die Strafen, desto besser kann jeder sein Verhalten berechnen.
Bei all diesen Lügereien und Betrügereien gibt es ein Kriterium, ab wann sie als unmoralisch einzustufen sind. Solange es sich um kleine Beträge handelt, gelten sie als Kavaliersdelikte. Eine Putzfrau zu beschäftigen, ohne sie anzumelden, wird als Bagatelle angesehen und ist nicht ehrenrührig. Steuern in größerem Maß zu hinterziehen gilt als unmoralisch.
Schließlich möchte ich in diesem Kapitel auch noch die Lüge aus Konvention erwähnen. Die meisten von uns »lügen« einige Male jeden Tag. Es beginnt mit der Antwort »gut« auf die Frage, wie es uns geht, obwohl wir uns elend fühlen. Aber wir wissen, dass es unsere Mitmenschen nicht interessiert. Es setzt sich fort mit der Bemerkung am Telefon, mein Mann ist im Augenblick nicht zu Hause; oder »wir werden uns wieder melden«. Sind das wirklich Lügen?
Ich nenne diese Lügen konventionelle Redensarten, deren Wahrheitsgehalt niemanden interessiert. Es gibt eine Art unausgesprochener Übereinkunft, dass wir bei einer flüchtigen Begegnung keine Wahrheiten erwarten sollen. Wir werden aus Höflichkeit verschweigen, dass wir unser Gegenüber als einen üblen Gesellen empfinden. Ja, es wird als lästig empfunden, wenn einer jedem immer die Wahrheit sagt oder dem anderen zumutet, sich anhören zu müssen, wie miserabel er sich fühlt. Wir wollen »belogen« werden.
Wer möchte diesen Erdenball
Noch fernerhin betreten,
Wenn wir Bewohner überall
Die Wahrheit sagen täten.
Ihr hießet uns, wir hießen euch
Spitzbuben und Halunken,
Wir sagten uns fatales Zeug,
Noch eh’ wir uns betrunken.
Und überall im weiten Land
Als langbewährtes Mittel
Entsproßte aus der Menschenhand
Der treue Knotenknittel.
Da lob’ ich mir die Höflichkeit,
Das zierliche Betrügen.
Du weißt Bescheid, ich weiß Bescheid;
Und allen macht’s Vergnügen. 5
Uns Deutschen fällt es schwer, konventionelle Höflichkeit gutzuheißen. »Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist«, sagt der Baccalaureus im Faust II . Andere Kulturen, etwa die angelsächsische, verstehen Höflichkeit als einen Modus des Umgangs, der das Leben erleichtert. Das tut er aber nur dann, wenn alle sich einig sind, dass Formen der Höflichkeit nicht wahrer Ausdruck der Gedanken oder Empfindungen der Einzelnen sein müssen. Ein Amerikaner wird die Bemerkung nach einer kurzen Begegnung, ich würde mich freuen, Sie wiederzusehen, als eine höfliche Formel betrachten; ein Deutscher würde glauben, der andere wolle ihn
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