Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
tatsächlich wiedersehen.
Eine Schülerin unserer Schule hielt sich im Rahmen eines Austauschprogramms in Amerika auf, saß während eines Fluges nach New York neben einem älteren Herrn, der sich von ihr verabschiedete mit den Worten, er würde sich freuen, wenn sie ihn einmal besuchen würde. Die Adresse war ihr bekannt, weil er ihr einen Umschlag mit einem interessanten Artikel in die Hand gedrückt hatte. Nach einer Woche klingelte sie an der Tür des Herrn. Er öffnete, war sehr erstaunt, erkannte die Unterschiede der Kulturen, lachte und sagte, natürlich sei sein Satz nicht wörtlich gemeint gewesen. Trotzdem lud er sie zum Mittagessen ein.
Wer höfliche Formen wahrt, lügt ebenso wenig wie der, der aus moralischen Gründen lügt.
4 Rainer Erlinger, Gewissensfragen , Streitfälle der Alltagsmoral, Goldmann Verlag, München 2007.
5 Wilhelm Busch: Kritik des Herzens aus: Sämtliche Werke, hrsg. von Rolf Hochhuth, C. Bertelsmann Verlag, München 1982, Band I, S. 813.
Die Macht der Lüge
Lügner können ihre Macht in der Regel hemmungslos entfalten, weil ihre Lüge erst als Lüge entdeckt wird, wenn sie ihre Macht schon etabliert haben. Manchmal sogar erst, wenn ihr Lügengebäude in sich zusammenfällt. Berichte über das Lügenimperium von Lance Armstrong, dem legendären siebenmaligen Sieger der Tour de France, füllten die Medien. Manche Berichterstatter malten ein erschreckendes Psychogramm dieses Mannes. Ich bin immer noch erstaunt über die unglaubliche Energie, mit der er sein Lügengebäude errichtete und in einer fragilen Balance hielt.
Wir neigen dazu, die Macht der Lüge zu unterschätzen. Als Kinder der Aufklärung glauben wir, die Lüge habe an Macht verloren, weil wir uns unseres Verstandes bedienen können. Sie ist für uns keine transzendente Macht mehr. Früher war das anders. Da personifizierten die Menschen sie als Teufel oder Satan, als Widersacher Gottes mit übernatürlichen Kräften. Im Johannes-Evangelium (Joh. 8,44) bezeichnet Jesus den Teufel als Vater der Lüge. Faust teilt Mephisto mit, es entspreche seinem Wesen, »wenn man euch Fliegengott, Verderber, Lügner heißt«. Es gab Religionen, die die Weltgeschichte als Kampf zwischen den bösen und guten Mächten interpretierten.
Luthers bekanntestes Kirchenlied »Ein feste Burg ist unser Gott« wurde immer wieder als eine Art Kampflied des Protestantismus angesehen. Es ist ein Lied gegen den »Fürst dieser Welt«; er ist »der alt böse Feind, mit Ernst er’s jetzt meint, groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist«. Wer würde heute noch so vom Bösen als einer dämonischen Macht sprechen und von seiner primären Erscheinungsform, der Lüge?
Kant sprach in seiner philosophischen Schrift Über Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft vom »radikal Bösen« im Menschen. Es sei keine aktive Kraft, sondern der »Hang zum Bösen« würde der Selbstliebe entspringen, einer »Verkehrtheit des menschlichen Herzens«. Die menschliche Neigung, den Eigennutz höherzustellen als das Gemeinwohl, hat unergründliche Ursachen. Wie immer wir diese dunkle Seite unseres Wesens deuten, wir müssen mit dieser Schwäche leben und dürfen nicht vorbehaltlos auf das Gute im Menschen vertrauen.
Jeder Mensch begegnet irgendwann in seinem Leben zum ersten Mal der Macht der Lüge. Meine erste Begegnung datiert aus dem Jahr 1965. Ich studierte am philosophischen Institut der Universität Saarbrücken. Philosophische Institute ziehen magisch hochbegabte und sinnsuchende Studenten an, die zuweilen zu ungewöhnlichem Denken neigen. Einer dieser Unkonventionellen erschien eines Tages nicht mehr im Institut. Wir erfuhren, dass sein Vater erreicht hatte, ihn »bei Nacht und Nebel« in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrischen Klinik einliefern zu lassen. Er rechtfertigte uns gegenüber die Einlieferung als Wohltat; sein Sohn solle vor sich selbst und andere sollten vor ihm geschützt werden. Unser Kommilitone, den wir in der Klinik aufsuchten, kommentierte die Aktion seines Vaters mit zynischem Humor. Wir wandten uns schließlich an das Gericht. Eine Verhandlung wurde angesetzt. Der Richter fragte die Ärzte, ob unser studentischer Freund tatsächlich so gefährlich sei. Das wurde verneint. Eine Stunde später war er frei.
Der Vater hatte die Einweisung gegenüber der Klinik mit einer Lüge begründet. Er hatte dies so massiv getan und gefordert, dass man seinen Sohn im Schlaf mit Hilfe einer betäubenden Injektion
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