Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
ihn nicht einmal erwähnt hatte, wäre, so vermutete ich, zu kränkend gewesen. Eine erlaubte kleine Lüge?
Die Lüge war nicht erlaubt, aber in meinen Augen trotzdem geboten. Ich hätte für mein Handeln viel Sympathie auch unter moralisch Denkenden gefunden. Denn der humane Zweck schien in diesem Fall das Mittel zu heiligen. Ich hätte diese Lüge als Notlüge rechtfertigen können.
Eine südeuropäische Familie vertraute Salem zwei Töchter an. Anmutige und kluge Mädchen bereicherten unsere Gemeinschaft. Der sehr traditionell denkende Vater erwartete selbstverständlich, dass wir über die Reinheit seiner Töchter wachten. Frauen seien wie Holzteller, dozierte er. Wenn man einmal daraus gegessen habe, würden immer Spuren bleiben. Nach einem halben Jahr verliebte sich das ältere, siebzehnjährige Mädchen in einen Jungen. Sie gestalteten ihre Freundschaft dezent, jeder spürte aber ihre Leidenschaft. Das Mädchen erzählte ihren Eltern nichts davon. Sie bat auch händeringend ihre Mentorin, ihre Erzieherin im Internat, den Eltern gegenüber zu schweigen. Der Vater fragte ständig nach, ob seine Töchter einen Freund hätten. Wäre das der Fall, würde er sie sofort abmelden. Die Mentorin verneinte jedes Mal seine Frage.
Sie musste die Lüge ständig wiederholen. Unter ihrem Schutz konnte sich die Freundschaft der jungen Menschen entfalten. Eines Tages jedoch entdeckte der Vater den Betrug, reiste an und stellte Schulleitung und Mentorin zur Rede. Die Mentorin trat ihm selbstbewusst entgegen, bekannte, dass sie die Freundschaft der beiden gefördert habe. Sie hielt dem Vater entgegen, dass seine Forderung die Würde seiner Töchter verletze und sie zur Lüge zwinge. Der Vater sah nichts ein, machte aber seine Drohung nicht wahr, weil das Mädchen kurz vor dem Abitur stand.
Die Mentorin log aus Moralität. Sie interpretierte ihre Lüge nicht als Notlüge, obwohl es streng genommen eine Notlüge war. Sie wusste, dass wir immer wieder in Konflikte zwischen Werten geraten, die eine ähnliche Geltung besitzen. In diesem Fall musste sie sich zwischen dem Wert Wahrhaftigkeit und dem Wert der Würde des Mädchens entscheiden und nicht zwischen Wahrheit und Lüge. Das Ansinnen des Vaters, jede Freundschaft zu einem Jungen müsse unterbunden werden – das Bild vom Holzteller offenbarte seine frauenverachtende Haltung –, war in ihren Augen »sittenwidrig«. Die Mentorin war meiner Ansicht nach der Prototyp eines ehrlichen Menschen. Nur solche Menschen geraten in moralische Wertekonflikte.
Ich berichte noch eine andere, ebenfalls wahre Geschichte. Ein wacher, sympathischer Junge besuchte die vierte Klasse einer Grundschule in Baden-Württemberg. Zum Halbjahr stellte sich heraus, dass er aufgrund seiner Noten wohl keine Empfehlung für das Gymnasium erhalten werde. Seine Klassenlehrerin war aber von seiner Begabung überzeugt, hielt ihn nur für verträumt und wollte auf jeden Fall erreichen, dass er das Gymnasium besuchen dürfe. In einem Gespräch mit den Eltern teilte sie ihre Meinung mit, bemerkte aber zugleich, die Noten würden bis zur Entscheidung der Konferenz nicht besser werden. Das Kollegium glaube zu sehr an die Aussagekraft von Noten, auf eine vernünftige Entscheidung, die Empfehlung trotz nicht ausreichender Noten auszusprechen, die gesetzlich möglich gewesen wäre, dürfe man nicht hoffen. Die Eltern sollten sich daher nicht wundern, wenn in Diktaten und Klassenarbeiten in Rechnen nicht alle Fehler angestrichen seien. Das sei gewollt, nur dadurch lasse sich das pädagogisch Gebotene erreichen, nämlich die Noten zu verbessern und die Gymnasialempfehlung zu sichern. Der Junge bestand nicht nur das Abitur, er schloss sein Studium mit der Note eins ab. Auch diese Lehrerin »betrog« aus Moralität, aber eigentlich betrog sie nicht, sondern korrigierte mit ihrer Tat ein in ihren Augen in Paragraphendenken erstarrtes Lehrerkollegium.
Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen ohne schlechtes Gewissen lügen, weil es kein »heiliges, unbedingt gebietendes Vernunftgebot« mehr gibt, immer die Wahrheit sagen zu sollen. Wir haben uns daran gewöhnt, guten Gewissens zu lügen, wenn wir in Konflikte geraten, und sprechen dann schnell von Notlügen. Gefühlsmäßig glauben wir uns im Recht.
Als Notlügen gelten dann schon Lügen, die dem Eigennutz dienen oder durch die man Schaden von sich abwenden will. Wahrhaftigkeit gilt nicht mehr als absoluter Wert. Man ist wahrhaftig oder lügt, je nachdem, ob es
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