Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
mich hinter ihren Rücken und macht einen Schritt auf das Wasser zu. Sie neigt den Kopf und wirkt mit einem Mal äußerst konzentriert. Der Bluthund bellt wieder. Er ist jetzt noch näher herangekommen.
Sechs atmet langsam aus. Gleichzeitig hebt sie die Hände – und plötzlich fängt das Wasser des Flusses an, sich vor uns zu teilen. Mit einem lauten rauschenden Ton schäumt und wirbelt es zu beiden Seiten in die Höhe und legt einen schlammigen, anderthalb Meter breiten Pfad frei, der an das gegenüberliegende Ufer führt. Das Wasser schwebt und scheint jeden Moment in einer riesigen Welle wieder herunterzustürzen. Doch erstaunlicherweise ist die Schwerkraft wie ausgeschaltet und das Wasser hängt fest. Eisige Gischt bedeckt unsere Gesichter.
»Los!«, befiehlt Sechs. Ihr Gesicht ist angespannt und konzentriert, ihr Blick auf das Wasser gerichtet.
Sam und ich springen von der Uferböschung herunter. Meine Füße sinken ein und der Schlamm reicht mir fast bis zu den Knien. Aber immer noch besser, als mitten in der Nacht durch einen eiskalten Fluss zu schwimmen.
Sobald wir auf der anderen Seite angelangt sind, kommt Sechs hinterher. Sie lässt ihre Hände rotieren, während sie an den riesigen aufgestauten Wassermassen vorbeiläuft, die sie selbst geschaffen hat und die jede Sekunde über ihr einzustürzen drohen. Dann klettert sie ans Ufer und entspannt sich wieder. Die Wassermassen stürzen mit einem so tiefen, dumpfen Knall zusammen, als hätte jemand einen Kanonenschuss abgefeuert. Die Wellen türmen sich auf und sinken zusammen. Kurz danach sieht alles wieder aus wie zuvor.
»Unglaublich«, kommentiert Sam. »Genau wie Moses.«
»Los, weiter. Wir müssen uns unter den Bäumen da hinten verstecken, damit uns der Hund nicht sehen kann«, sagt Sechs.
Der Plan funktioniert. Nach ein paar Minuten bleibt der Hund am Flussufer stehen und schnüffelt aufgeregt herum. Ein paarmal dreht er sich im Kreis, dann hetzt er Bernie Kosar hinterher.
Sam, Sechs und ich laufen in die entgegengesetzte Richtung bis zu den Bäumen, wo wir anhalten werden. Von diesem Standort können wir noch immer den Fluss beobachten. Auf den ersten paar Metern hören wir noch die Stimmen der Männer auf der anderen Uferseite, bis wir sie schließlich hinter uns lassen.
Nach zehn Minuten ertönt das erste Geräusch eines Helikopters. Wir bleiben stehen und warten darauf, dass wir ihn sehen können. Kurz darauf erscheint ein paar Kilometer entfernt ein Lichtstrahl am Himmel und leuchtet in die Richtung, in die Bernie Kosar verschwunden ist. Der Lichtstrahl gleitet über die Hügel, wendet sich hierhin und dorthin.
»Er sollte schon längst zurück sein«, sage ich.
»Er wird’s schon schaffen«, sagt Sam. »Er ist schließlich BK, das unverwüstlichste Monster, das ich kenne.«
»Er hat ein gebrochenes Bein.«
»Aber zwei gesunde Flügel«, entgegnet Sechs. »Es geht ihm bestimmt gut. Wir müssen weiter. Sie werden es bestimmt bald kapieren. Je länger wir warten, desto näher kommen sie heran.«
Ich nicke. Sechs hat recht. Wir müssen weiter.
Nach einem Kilometer macht der Fluss eine scharfe Biegung nach rechts, führt wieder von den Hügeln weg und zum Highway zurück. Wir halten an und kauern uns unter den tief hängenden Ästen eines großen Baums zusammen.
»Was jetzt?«, fragt Sam.
»Keine Ahnung«, erwidere ich. Wir laufen wieder in die andere Richtung. Der Hubschrauber ist jetzt näher gekommen und lässt sein Scheinwerferlicht weiter über die Hügel gleiten.
»Wir müssen weg vom Fluss«, sage ich.
»Ja, stimmt«, antwortet Sechs. »Bernie Kosar wird uns bestimmt finden, John. Versprochen.«
In den Baumkronen nicht weit von uns entfernt hören wir den Schrei eines Adlers. Es ist zu dunkel, um ihn zu erkennen, und vielleicht auch zu dunkel, dass er uns sehen kann. Ich zögere nicht lange, auch wenn mein Vorhaben unsere Position verraten könnte: Ich halte meine Handflächen zum Himmel empor und lasse sie für eine halbe Sekunde so hell aufleuchten, wie es geht. Mit gereckten Köpfen und angehaltenem Atem warten wir ab. Dann höre ich das Schnaufen eines Hundes, und Bernie Kosar, wieder in Gestalt eines Beagles, kommt vom Flussufer auf uns zugelaufen. Er ist völlig außer Atem, freut sich aber, uns zu sehen. Seine Zunge hängt aus dem Maul und sein Schwanz wedelt mit einer irren Geschwindigkeit hin und her.
Ich bücke mich und streichle ihn. »Gut gemacht, alter Freund«, sage ich und drücke einen Kuss auf seinen
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