Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
einem schrecklichen Ort, an dem ein Mensch durch die schmalen Zwischenräume eines Stacheldrahtzauns gerissen werden kann.
Wir haben ein verlassenes Haus am Rande eines Naturschutzgebiets gefunden, ein paar Kilometer von Lake George entfernt. Genauso ein Haus, wie es Henri gefallen hätte: isoliert, klein und ruhig. Ohne eigenen Charakter, aber sehr sicher. Es hat nur ein Stockwerk. Außen ist es limonengrün gestrichen, während im Innern verschiedene Beigeschattierungen sowie ein brauner Teppichboden den Ton angeben. Wir haben großes Glück, da das Wasser noch nicht abgestellt worden ist. Gemessen an der dicken Staubschicht hat hier vermutlich eine Weile niemand mehr gelebt.
Ich rolle mich auf die Seite und starre das Telefon neben meinem Kopf an. Nach allem, was mir meine Vision gerade gezeigt hat, könnte mir nur Sarah Trost spenden. Seit zwei Wochen habe ich sie nun nicht mehr gesehen. Ich erinnere mich an die Zeit, als sie gerade aus Colorado zurückgekommen war, und an die Art, wie wir uns damals umschlungen hielten. Wenn ich einen Augenblick für immer und ewig in Erinnerung behaltenkönnte, dann würde ich diesen wählen. Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen, was sie gerade macht, was sie anhat, mit wem sie spricht. In den Nachrichten hieß es, dass die sechs umliegenden Schulbezirke einen Teil der Schüler aus Paradise aufgenommen haben, bis ein neues Gebäude fertiggestellt ist. Ich frage mich, an welcher Schule Sarah wohl gelandet ist und ob sie weiterhin fotografiert.
Ich strecke die Hand nach meinem Telefon aus. Es ist ein Prepaid-Handy und unter dem Namen Julius Seazar registriert. Henris Sinn für Humor hat mich oft überrascht. Nach vielen Tagen schalte ich das Handy zum ersten Mal wieder ein. Ich brauche nur ihre Nummer zu wählen und schon könnte ich ihre Stimme hören. So einfach ist das.
Ich drücke die vertraute Nummernfolge in die Tasten, bis ich zur letzten Nummer komme. Dann schließe ich die Augen, atme tief ein und schalte das Telefon wieder aus. Ich weiß genau, dass ich die zehnte Ziffer nicht drücken kann. Die Angst um Sarahs Sicherheit und ihr Leben – unser aller Leben – hält mich zurück.
Im Wohnzimmer hockt Sam, hält einen von Henris Laptops auf dem Schoß und sieht sich einen CNN-Beitrag an. Glücklicherweise funktioniert Henris Karte für den drahtlosen Internetzugang noch immer, welches Pseudonym er auch immer dafür benutzt haben mag. Sam kritzelt aufgeregt irgendwelche Notizen auf einen Block. Seit den Ereignissen in Tennessee sind erst drei Tage vergangen. Nachdem wir auf drei verschiedene Güterzüge gesprungen waren, von denen uns einer zweihundert Kilometer in die falsche Richtung transportierte, kamen wir schließlich gestern Abend hier in Florida an. Ohne die Anwendung unseres Erbes – unserer Geschwindigkeit und der Unsichtbarkeit von Sechs – hätten wir es nie geschafft. Jetzt wollen wir erst mal eine Weile den Ball flach halten und Gras über die Geschichtewachsen lassen. Wir formieren uns neu, beginnen wieder mit unserem Training und versuchen unter allen Umständen solche Vorfälle wie den mit den Helikoptern zu vermeiden. Erster Auftrag: ein neues Auto suchen. Zweiter Auftrag: rausfinden, was als Nächstes zu tun ist. Keiner von uns weiß es genau. Wieder einmal spüre ich deutlich, wie sehr ich Henri vermisse.
»Wo ist Sechs?«, frage ich und stolpere ins Wohnzimmer.
»Draußen schwimmen gegangen oder so«, sagt Sam.
Das Tolle an unserem neuen Haus ist der Swimmingpool, den Sechs augenblicklich mit Wasser füllte, indem sie einen ordentlichen Regensturm herbeirief.
»Ich dachte, du würdest Sechs nur zu gern im Badeanzug sehen«, ärgere ich Sam.
Sein Gesicht wird knallrot. »Halt die Klappe. Ich muss die Nachrichten checken. Du weißt schon: was Nützliches tun.«
»Gibt’s was Neues?«
»Abgesehen davon, dass ich jetzt als Komplize gelte und das Kopfgeld auf eine halbe Million Dollar raufgesetzt wurde?«
»Ach, komm schon. Das findest du doch bestimmt total abgefahren.«
»Ja, ziemlich coole Sache.« Er grinst. »Ansonsten nein, nichts Neues. Ich verstehe gar nicht, wie Henri hier den Überblick behalten konnte. Jeden Tag gibt es buchstäblich Tausende solcher Geschichten.«
»Henri hat nie geschlafen.«
»Willst
du
nicht vielleicht mal rausgehen und dir Sechs im Badeanzug anschauen?«, fragt Sam und wendet sich wieder dem Computer zu. Erstaunlicherweise gibt es kein Quäntchen Sarkasmus in seiner Stimme. Er weiß, was
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