Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
abhauen. Ich schwöre es. Ich verschwinde.« Sechs spannt noch mal den Abzug. Am Fenster des Hauses werden die Vorhänge zur Seite geschoben und das Gesicht einer großen blonden Frau erscheint. Ich drücke die Hand von Sechs. Sie erwidert meine Bewegung. »Ich verschwinde sofort. Ich gehe. Ich gehe«, versichert der Mann seinem Revolver.
Sechs zielt noch einmal auf den Wagen und leert die Patronenkammer mit einem lauten Knall. Die hintere Scheibe an der Fahrerseite zerbirst in tausend Stücke.
»Nein! Schon gut! Okay!«, schreit der Mann. Plötzlich erscheint ein feuchter Fleck auf der Innenseite seiner Jeans. Sechs richtet die Waffe auf das Wohnzimmerfenster im Haus. Der Mann sieht zu der blonden Frau hinüber. »Ich komme nie zurück. Nie, niemals. Auf keinen Fall.« Die Waffe bewegt sich zweimal kurz zur Seite und deutet ihm an, dass er jetzt gehen kann. Der Mann reißt die Fahrertür auf und hechtet in den Wagen. Als er rückwärts die Einfahrt hinausfährt und wieder auf die Straße biegt, wirbeln die Reifen kleine Steinchen auf. Die Frau starrt weiterhin auf den Revolver, der vor ihrer Haustür schwebt. In diesem Moment schleudert Sechs die Waffe mit solcher Wucht über das Haus hinweg, dass sie bestimmt bis in die nächste Gemeinde fliegt.
Wir laufen zurück zur Straße und rennen dann immer weiter, bis kein Haus mehr zu sehen ist. Ich wünschte, ich könnte Sechs’ Gesicht jetzt sehen.
»So was könnte ich jeden Tag machen«, sagt sie nach einer Weile. »Es ist, als wäre man irgend so ’ne Superheldin.«
»Die Menschen stehen total auf ihre Superhelden«, ist alles, was mir einfällt. »Glaubst du, sie ruft die Polizei?«
»Quatsch. Sie wird wahrscheinlich glauben, dass alles nur ein böser Traum war.«
»Oder der beste, den sie je hatte«, sage ich.
Dann unterhalten wir uns darüber, wie viel Gutes wir mit unseren Kräften auf der Erde ausrichten könnten, wenn wir gerade nicht gejagt oder verfolgt würden.
»Wie hast du dir das alles eigentlich selbst beigebracht?«, frage ich Sechs. »Henri hat mich ganz schön antreiben müssen. Allein wäre es mir sehr schwer gefallen, die ganzen Sachen zu lernen.«
»Ich hatte keine andere Wahl. Wir passen uns an oder gehen zugrunde. Deshalb habe ich mich angepasst. Bevor wir gefangen wurden, haben Katarina und ich jahrelang trainiert. Nachdem mein Erbe erschien, war das dann leider nicht mehr möglich. Als ich endlich aus dieser Höhle rauskam, habe ich mir geschworen, dass ihr Tod nicht vergebens sein sollte und ich ihn rächen werde. Also habe ich da weitergemacht, wo wir aufgehört hatten. Am Anfang war es ziemlich schwer, weil ich ganz auf mich allein gestellt war. Aber nach und nach habe ich immer mehr gelernt und bin stärker geworden. Übrigens hatte ich auch mehr Zeit. Mein Erbe kam früher als deins und ich bin älter als du.«
»Weißt du«, sage ich, »mein sechzehnter Geburtstag oder zumindest der Tag, den Henri und ich immer als meinen Geburtstag gefeiert haben, war vor zwei Tagen.«
»John! Warum hast du uns das nicht erzählt?«, fragt Sechs, lässt meine Hand los und versetzt mir einen spielerischen Schubs, sodass ich sofort wieder sichtbar werde. »Wir hätten doch feiern können.«
Ich lächle, strecke die Hand nach ihr aus und taste blind im Dunkeln herum. Sechs nimmt meine Hand und verschränkt ihre Finger mit meinen. Plötzlich muss ich wieder an Sarah denken, aber ich schiebe den Gedanken sogleich beiseite.
»Wie war Katarina eigentlich?«, frage ich.
Einen Augenblick ist sie ganz still. »Mitfühlend. Immer hat sie anderen geholfen. Und sie war lustig. Wir haben viel gelacht und herumgealbert. Wahrscheinlich fällt es dir schwer, das zu glauben, wo ich doch immer so ernst bin.«
Ich muss kichern. »Das hast
du
jetzt gesagt.«
»Aber lass uns mal beim Thema bleiben. Wieso hast du nichts von deinem Geburtstag erzählt?«
»Ich weiß nicht. Bis gestern habe ich gar nicht daran gedacht. Und bei allem, was wir momentan durchmachen, schien es mir sinnlos, darauf zurückzukommen.«
»Aber das ist überhaupt nicht sinnlos. Es ist dein Geburtstag, John. Jeder Geburtstag, den einer von uns hat, sollte Anlass zum Feiern sein, wenn man bedenkt, wer uns alles auf den Fersen ist. Außerdem wäre ich beim Training etwas vorsichtiger gewesen, wenn ich es gewusst hätte.«
»Jep, du hast bestimmt ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil du jemanden an seinem Geburtstag so zugerichtet hast«, sage ich und gebe ihr einen Schubs.
Bernie Kosar
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