Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
bestätige ich. »Das Komische ist, dass ich mich nach Henris Tod jetzt meist an die Dinge erinnere, die ich an ihm nicht ausstehen konnte. Zum Beispiel, wenn wir unsere Zelte abbrechen mussten und Stunden über Stunden zu einem Ort unterwegs waren, von dem ich noch nie im Leben gehört hatte, und ich eigentlich nur aus dem Auto rauswollte. Jetzt erinnere ich mich sehr gut an diese Auseinandersetzungen. Oder als wir in Ohio mit dem Training anfingen und er mich wieder und wieder dieselben Übungen machen ließ … Ich hab das so gehasst, verstehst du? Aber jetzt kann ich nicht daran zurückdenken, ohne dabei lächeln zu müssen.«
»Einmal, kurz nachdem meine Telekinese aktiv wurde, haben wir im Schnee trainiert und er hat ständig mit irgendwelchenSachen nach mir geworfen, damit ich lernen konnte, sie abzuwehren. Ich musste dann alle Sachen zurück zu ihrem Ursprungsort bewegen. Dabei hat er dann einmal sehr heftig mit einem Fleischklopfer nach mir geworfen und ich habe seine Geschwindigkeit benutzt, um ihn dann wieder zu ihm zurückzuschleudern. In der letzten Sekunde musste er dann kopfüber in den Schnee springen, damit er nicht getroffen wurde«, erzähle ich und grinse in mich hinein. »Tja, der Schneehügel war eigentlich ein schneebedeckter Rosenbusch mit scharfen Dornen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Theater er machte. Solche Sachen werde ich bestimmt nie vergessen.«
Am Straßenrand taucht plötzlich ein Auto auf. Wir springen in den Graben und warten, bis es vorbeigefahren ist. Es biegt in die Einfahrt eines nahegelegenen Hauses und ein Mann in einer schwarzen Lederjacke steigt aus. Er hämmert an die Vordertür und fordert irgendjemandem im Innern auf, die Tür zu öffnen.
»Jesus. Wie spät ist es eigentlich?«, frage ich.
Sechs bewegt sich näher auf das Haus und den schreienden Mann zu. Sie hält mich weiterhin an der Hand. »Spielt das irgendeine Rolle?«
Als wir bis auf ein paar Meter an ihn herangeschlichen sind, weht uns eine Alkoholfahne entgegen. Er hört auf, gegen die Tür zu hämmern und ruft: »Du machst verdammt noch mal besser die Tür auf, Charlene. Du willst doch nicht erleben, was ich sonst mache, oder?«
Im selben Moment wie ich entdeckt Sechs den Revolver in seinem Hosenbund. Sie drückt meine Hand. »Den knöpfen wir uns vor«, flüstert sie.
Er hämmert weiter wie besessen gegen die Tür, bis schließlich das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet wird. Dann hören wir eine Frau durch die Tür rufen: »Verzieh dich! Mach bloß, dass du wegkommst, Tim!«
»Mach sofort die Tür auf!«, brüllt er zurück. »Sonst gibt’s richtig Ärger, Charlene! Hörst du mich?«
Wir sind jetzt so dicht an ihn herangeschlichen, dass wir ihn anfassen könnten. Das verblasste Tattoo hinter seinem linken Ohr stellt einen Seeadler dar, der eine Schlange in seinen Krallen hält.
»Lass mich in Ruhe, Tim!«, ruft die Frau zurück. Ihre Stimme ist jetzt noch aufgeregter. »Warum bist du gekommen? Warum kannst du mich nicht einfach in Frieden lassen?«
Er hämmert immer heftiger an die Tür und brüllt weiter. Ich bin kurz davor, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen und seinen Adler mit der Schlange ordentlich zusammenzuquetschen, als ich sehe, wie sich seine Waffe langsam nach oben bewegt, schließlich von ihm wegschwebt und in den unsichtbaren Händen von Sechs landet. Dann hält Sechs den Revolverlauf an den Hinterkopf des Mannes und drückt ihn an seinen Schädel. Mit einem lauten Klick spannt sie den Abzug.
Der Mann unterlässt das Hämmern augenblicklich. Er hört auch auf zu atmen. Sechs presst die Waffe jetzt noch heftiger an seinen Kopf, dann drückt sie den Revolver an seine rechte Schläfe.
Der Mann dreht sich um. Der Anblick des vor ihm schwebenden Revolvers lässt ihn kreidebleich werden. Er kneift die Augen zusammen und schüttelt heftig den Kopf, so als erwarte er, in seinem Bett oder dem Hinterhof irgendeiner Kneipe aufzuwachen. Sechs bewegt die Waffe nach rechts. Ich warte darauf, dass sie etwas sagt und dem Typen so eine richtige Scheißangst bereitet, doch stattdessen richtet sie den Revolver auf sein Auto. Sie schießt. Ein kreisförmiges Loch erscheint in der Frontscheibe. Überall sind Scherben. Der Typ schreit gellend und bricht in Tränen aus.
Sechs richtet die Waffe wieder auf sein Gesicht. Der Kerlberuhigt sich etwas. Ein Streifen Rotze tropft aus seiner Nase auf die Oberlippe. »Bitte, bitte, bitte«, sagt er. »Es tut mir leid, lieber Gott. Ich werde sofort
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