Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
Körper nach Stich- oder Schnittverletzungen ab, doch ich bin unversehrt. In diesem Moment sehe ich das Mädchen mit den grauen Augen. Das Mädchen, von dem ich geträumt habe und dessen Bild neben John Smith die Höhlenwand ziert. Bewegungslos liegt es am Ufer. Ich renne zu ihm. Blut dringt aus Verletzungen an seinem Körper und versickert im Sand, um gleich danach ins Meer hinausgespült zu werden. Das schwarze Haar klebt an dem aschgrauen Gesicht. Das Mädchen atmet nicht und ich bin völlig verzweifelt, weil es nichts gibt, was ich tun könnte.
Plötzlich erklingt hinter mir ein tiefes, spöttisches Lachen. Ich schließe kurz die Augen, bevor ich mich umdrehe, um meinem Feind gegenüberzutreten.
Ich mache die Augen wieder auf. Das Schlachtfeld ist verschwunden, stattdessen ist das vertraute Bett im dunklenSchlafraum zurückgekehrt. Der Mond scheint wieder normal hellgelb.
Ich stehe auf, gehe zum Fenster und suche die dunkle Umgebung ab. Alles ist ruhig und still. Keinerlei Anzeichen von bärtigen Männern oder Ähnlichem. Der Schnee ist mittlerweile komplett geschmolzen und das Mondlicht glänzt auf dem feuchten Kopfsteinpflaster.
Ob er mich beobachtet?
Ich krieche zurück ins Bett, lege mich auf den Rücken und atme tief durch, um mich zu beruhigen. Mein ganzer Körper ist starr und verspannt. Ich denke an die Höhle. Seit die Stiefelabdrücke dort aufgetaucht sind, bin ich nicht mehr da gewesen. Ich wende mich vom Fenster ab und rolle mich auf die Seite. Ich will nicht sehen, was da draußen ist. Ella ist noch nicht wieder in ihrem Bett. Ich versuche, auf sie zu warten, schlafe jedoch ein. Weitere Träume bleiben aus.
Als die Morgenglocke läutet, hebe ich den Kopf vom Kissen. Mein Körper ist steif und schmerzt. Kalter Regen prasselt gegen die Scheiben. Ich sehe zu Ella, die auf ihrem Bett sitzt, die Arme zur Decke reckt und herzhaft gähnt.
Ohne miteinander zu sprechen, schlurfen wir aus dem Schlafraum, verfallen in unsere sonntägliche Routine und sitzen mit hängenden Köpfen in der Messe. Irgendwann stoße ich Ella an und sie wacht auf. Nach zwanzig Minuten erweist sie mir denselben Dienst. Mehr schlecht als recht überstehe ich die El-Festín-Warteschlange, teile das Essen aus und halte Ausschau nach allem, was mir verdächtig vorkommt. Alles scheint ganz normal zu sein und ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein soll. Am meisten betrübt mich, dass ich Héctor nicht sehe.
Kurz bevor wir mit dem Aufräumen fertig sind, fangen La Gorda und Gabby an herumzualbern und bespritzen sich ausdem Hahn über der Spüle gegenseitig mit Wasser. Ich spüle, trockne die Teller ab und versuche die beiden zu ignorieren, obwohl ich die eine oder andere Ladung Wasser abbekomme. Nach zwanzig Minuten habe ich den letzten Teller abgetrocknet. Als ich ihn vorsichtig auf den bereits hohen Stapel stelle, rutscht ein Mädchen namens Delfina auf dem feuchten Boden aus und stößt mit mir zusammen. Ich krache gegen den Tellerstapel, woraufhin dreißig Teller zurück ins schmutzige Spülwasser fallen und ein paar dabei zerbrechen.
»Kannst du nicht aufpassen?«, fauche ich und schiebe sie mit einem Arm von mir weg.
Delfina wirbelt herum und schubst mich zurück.
»Hey!«, bellt Schwester Dora quer durch die Küche. »Ihr beiden, hört auf! Und zwar sofort!«
»Das wirst du mir büßen«, sagt Delfina. Ich kann es kaum mehr abwarten, Santa Teresa endlich hinter mir zu lassen.
»Was auch immer«, erwidere ich mürrisch.
Mit finsterer Miene sieht sie mich an. »Pass bloß auf.«
»Wenn ich zu euch rüberkommen muss, dann werdet ihr es bereuen. So wahr mir Gott helfe!«, ruft Schwester Dora.
Anstatt meine Telekinese anzuwenden und Delfina – oder Schwester Dora, Gabby oder La Gorda – durch die Decke zu katapultieren, wende ich mich wieder meinen Tellern zu.
Nachdem ich endlich fertig bin, gehe ich nach draußen. Es regnet immer noch. Ich stehe unter dem Dachvorsprung und schaue in Richtung meiner Höhle. Am Berghang liegt bestimmt dicker Schlamm, was bedeutet, dass ich total schmutzig werde. Eine gute Ausrede, um nicht hingehen zu müssen. Selbst ohne den Regen würde ich nicht den nötigen Mut aufbringen, auch wenn ich noch so neugierig bin herauszufinden, ob es weitere Stiefelabdrücke gibt oder nicht.
Ich gehe ins Gebäude zurück. Ellas sonntägliche Pflicht bestehtdarin, die Kirche zu putzen und die Bankreihen abzustauben, wenn alle gegangen sind. Doch als ich die Kirche betrete, ist schon
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