Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
Verankerung. Sie donnern auf den Zementboden vor dem Haus. Dichter Qualm quillt aus den Öffnungen.
Ich renne wie besessen los. Dann atme ich tief ein, springe hoch in die Luft und reiße beim Landen die Tür aus den Angeln.
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In letzter Zeit liege ich jede Nacht mit geöffneten Augen stundenlang wach und lausche auf die Stille in meiner Umgebung. Immer wieder hebe ich den Kopf, wenn ich irgendwo ein entferntes Geräusch wahrnehme – ein Tropfen Wasser, der auf den Fußboden fällt; jemand, der sich in seinem Bett umdreht. Manchmal schleiche ich vom Bett zum Fenster, um mich zu vergewissern, dass da draußen nichts ist. Offenbar ist das der Versuch, mich in irgendeiner Form von Sicherheit zu wiegen, wie schwach sie auch sein mag.
Von Nacht zu Nacht bekomme ich weniger Schlaf. Ich bin geschwächt, fühle mich erschöpft bis an den Rand des Zusammenbruchs. Ich kann fast nichts mehr essen. Ich weiß zwar, dass es mir schadet, wenn ich mir den Kopf zerbreche, aber kein Versuch, mich zum Essen oder Ausruhen zu zwingen, wird etwas daran ändern. Und wenn ich dann einmal schlafe, kann nichts die grässlichen Träume abhalten, von denen ich wieder erwache.
Seit dem Tag, an dem der Typ mit dem Schnauzbart im Café aufgetaucht ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Das bedeutet nicht automatisch, dass er nicht irgendwo ist. Immer wieder kehre ich zu denselben Fragen zurück: Wer war in meiner Höhle? Wer oder was war der Mann im Café? Warum hat er ein Buch gelesen, auf dessen Cover der Name Pittacus gedruckt war? Und die wichtigste Frage: Wieso hat er mich entkommen lassen, wenn er ein Mogadori ist? All dies ergibt keinen Sinn. Nicht einmal der Titel seines Buchs. Im Internet habe ich einekurze, knappe Zusammenfassung gefunden. Darin heißt es: Pittacus war ein griechischer General, der eine Armee zurückschlug, die die Stadt Mytilene angreifen wollte. Welchen Zusammenhang gibt es hier?
Abgesehen von der Höhle und dem Buch bin ich zu zwei Schlussfolgerungen gelangt: Erstens wurde mir aufgrund meiner Nummer nichts angetan. Momentan verschafft mir das eine gewisse Sicherheit. Aber wie lange? Zweitens haben die anderen Leute im Café den Mogadori davon abgehalten, etwas zu unternehmen. Aber soweit ich weiß, würde sich ein Mogadori nicht von ein paar Zeugen abschrecken lassen. Ich laufe jetzt nicht mehr allein zur Schule und wieder zurück, sondern halte mich in der Nähe der anderen Mädchen auf. Um Ella zu beschützen, gehe ich nicht mehr in aller Öffentlichkeit mit ihr durch das Dorf. Zwar verletzt das ihre Gefühle, aber es ist zu ihrem Besten. Sie muss nun wirklich nicht in meine Probleme verwickelt werden.
Eine Sache gibt es, die mich ein wenig hoffen lässt. Adelina hat sich merklich verändert. Sorgenfalten überziehen ihre Stirn. Wenn sie sich unbeobachtet glaubt, huscht ihr nervöser Blick von einer Ecke in die andere. Wie damals, als sie noch ihren Glauben hatte, wirkt sie wie ein verschrecktes und gejagtes Tier. Und obwohl wir seit dem Tag, als ich vom Café zurückgekommen und in ihre Arme gestürzt bin, nicht mehr gesprochen haben, sind es diese kleinen Veränderungen, die mich glauben lassen, dass ich meine Cêpan vielleicht zurückbekommen habe.
Dunkelheit. Stille. Fünfzehn schlafende Mädchen. Ich hebe den Kopf und schaue durch den Raum. Anstatt Ellas kleine Gestalt auf der Matratze zu sehen, entdecke ich, dass die Decke zurückgeschlagen und das Bett leer ist. Es ist schon die dritte Nacht, in der ich ihre Abwesenheit bemerke, dennoch höre ichniemals, wenn sie hinausgeht. Aber ich habe größere Sorgen, als mir darüber den Kopf zu zerbrechen.
Ich lasse meinen Kopf auf das Kissen zurücksinken und schaue aus dem Fenster. Der Vollmond steht gelb leuchtend am Himmel. Wie in Trance starre ich hinaus und beobachte, wie er dort draußen schwebt. Ich hole tief Luft und schließe die Augen.
Als ich sie wieder öffne, hat sich die Farbe des Monds von Hellgelb in Blutrot verwandelt und er scheint zu flimmern. Dann wird mir klar, dass ich nicht den Mond ansehe, sondern sein Spiegelbild, das mir aus den Tiefen eines dunklen Gewässers entgegenleuchtet. Von der Wasseroberfläche steigt Dampf auf, die Luft riecht durchdringend nach Eisen. Ich hebe wieder den Kopf und plötzlich begreife ich, dass ich mitten auf einem verwüsteten und blutgetränkten Schlachtfeld stehe.
Überall liegen tote und sterbende Körper – die Folgen irgendeines Krieges, den sie nicht überlebt haben. Instinktiv taste ich meinen
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