Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
immer geartete Schimpfkanonade über ihre Lippen dringen kann.
»Du hast nicht die geringste Ahnung, was ich mit all den anderen Mädchen durchmachen muss. Während du hier mit deiner Bibel herumläufst und betest und die Perlen in deinem Rosenkranz zählst, ist es dir total egal, dass ich gemobbt werde, dass ich nur eine einzige Freundin habe, dass mich alle Schwestern hassen und dass es da draußen eine ganze Welt gibt, die ich verteidigen muss. Zwei Welten sogar, um genau zu sein! Lorien und die Erde brauchen mich. Und sie brauchen dich. Aber ich bin hier gefangen wie ein Tier im Zoo und dir ist das alles egal.«
»Natürlich ist es mir nicht egal.«
Ich fange an zu weinen. »Doch, ist es! Doch, ist es! Vielleicht war dir alles noch wichtig, als du damals Odette gewesen bist, und noch ein bisschen, als du Emmalina warst. Aber seitdem du Adelina bist und ich Marina bin, denkst du nicht mehr an mich, die anderen acht oder an das, was wir hier eigentlich machen. Es tut mir leid, aber ich ertrage es nicht, wenn du mir von Rettung erzählst, wo es doch das Einzige ist, das ich zu erreichen versuche. Ich versuche uns zu beschützen. Ich versuche so viel Gutes zu tun, und du benimmst dich, als wäre ich das Böse höchstpersönlich!«
Adelina macht einen Schritt nach vorn und will mich in die Arme nehmen, aber irgendwas hindert sie daran und sie tritt wieder zurück. Als sie zu weinen anfängt, bewegen sich ihre Schultern auf und ab. Sofort lege ich meine Arme um sie und wir halten uns fest umklammert.
»Was ist hier los? Warum ist Marina nicht in der Cafeteria?« Wir drehen uns um und entdecken Schwester Dora, die mit vor der Brust verschränkten Armen dasteht. Ein kupfernes Kruzifix hängt an ihrem Handgelenk.
»Geh!«, sagt Adelina. »Wir reden später weiter.«
Ich wische mir das Gesicht ab und schiebe mich an Schwester Dora vorbei. Während ich die Kirche verlasse, höre ich Wortfetzen einer gereizten Auseinandersetzung zwischen Adelina und Schwester Dora. Ihre Stimmen hallen von der gewölbten Decke wider. Voller Hoffung lasse ich eine Hand durch mein Haar gleiten.
Bevor ich mich gestern Abend in den Schlafraum zurückgeschlichen habe, habe ich den Kasten durch den dunklen engen Flur auf der linken Seite der Kirche schweben lassen, vorbei an den in den Fels gehauenen antiken Figuren. Jetzt ist er oben auf dem engen nördlichen Glockenturm versteckt, hinter derverschlossenen Eichentür. Für den Augeblick ist er dort sicher, aber wenn ich Adelina nicht bald überzeugen kann, ihn mit mir zu öffnen, muss ich ein anderes Versteck finden.
Ella ist nicht in der Cafeteria und ich mache mir Sorgen, dass die Anwendung meines Erbes womöglich ein Fehlschlag war und sie im Krankenhaus gelandet ist.
»Sie ist im Büro von Schwester Lucia«, antwortet mir ein Mädchen, als ich eine Gruppe am Tisch neben der Tür frage. »Ein Ehepaar war bei ihr. Ich glaube, sie wollen sie adoptieren oder so was.« Mit ihrem Löffel schaufelt sie einen Batzen von ihrem weichen Frühstücksei auf den Teller. »Die hat vielleicht ein Glück!«
Meine Knie versagen den Dienst und ich muss mich am Tisch festhalten, um nicht hinzufallen. Ich habe natürlich kein Recht, mich über Ellas vielleicht bevorstehende Befreiung aus dem Waisenhaus aufzuregen, aber sie ist meine einzige Freundin. Selbstverständlich wusste ich, dass sie auf der Liste der adoptierbaren Mädchen ganz oben steht: Ella ist sieben, süß und niedlich und man ist gern in ihrer Gesellschaft.
Besonders nachdem sie ihre Eltern verloren hat, hoffe ich wirklich, dass Ella ein neues Zuhause findet. Aber ich bin noch nicht bereit, sie gehen zu lassen, egal wie egoistisch das auch klingen mag.
Als Adelina und ich hier ankamen, war ich fest entschlossen, mich niemals adoptieren zu lassen. Jetzt sitze ich da und überlege, ob das nicht besser gewesen wäre, wenn man mich für geeignet befunden hätte. Vielleicht hätte sich ja irgendjemand in mich verliebt.
Aber selbst wenn Ella heute adoptiert werden sollte, so wird es eine Weile dauern, bis der ganze Papierkram erledigt ist. Und das bedeutet, dass sie noch ein oder zwei Wochen hierbleiben wird. Vielleicht sogar drei. Trotzdem bricht es mir das Herzund ich bin mehr denn je entschlossen, diesen Ort zu verlassen, sobald ich den Kasten öffnen kann.
Ich stürze aus der Cafeteria, schnappe mir meinen Mantel, stehle mich durch die schwere Doppeltür nach draußen und laufe den Berg hinunter. Es ist mir egal, dass ich die Schule
Weitere Kostenlose Bücher