Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
Sternen gelesen habe, weiß ich, dass das so eine Art Hinweis sein muss. Als ob er mir etwas gesagt hätte, ohne es auszusprechen. Er war verdammt schlau.«
»Genau wie du«, sage ich. »Es könnte Selbstmord sein, wenn wir zurück nach Paradise fahren. Aber ich fürchte, dass wir jetzt keine andere Wahl haben.«
19
Ich wache mit zusammengebissenen Zähnen und einem schalen Geschmack im Mund auf. Die ganze Nacht habe ich mich herumgewälzt – endlich ist der Kasten wieder in meinem Besitz. Doch jetzt fürchte ich mich davor, dass ich Adelina bitten muss, ihn mit mir zu öffnen. Zudem war ich so unruhig, weil ich Angst habe, zu vielen Menschen zu viele Dinge offenbart zu haben. Ich habe mein Erbe präsentiert wie in einem Schaufenster. Woran werden sich die anderen erinnern? Wird man mich schon beim Frühstück entlarven? Ich richte mich auf und sehe Ella auf ihrem Bett sitzen. Alle anderen im Raum schlafen noch, mit Ausnahme von Gabby, La Gorda, Delfina und Bonita – ihre Betten sind leer.
Ich will gerade die Füße auf den Boden setzen, als Schwester Lucia in der Tür erscheint. Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt und einen finsteren Blick aufgesetzt. Wir sehen uns an und mir bleibt die Luft weg. Dann aber tritt sie ein paar Schritte zurück und erlaubt den vier Mädchen aus der Kirche in den Schlafraum zu wanken. Sie wirken benommen, haben blaue Flecken und ihre Sachen sind schmutzig und zerrissen. Gabby stolpert auf ihr Bett zu und fällt mit dem Gesicht aufs Kissen. La Gorda reibt sich das Doppelkinn und legt sich mit einem Grunzen aufs Bett, während Delfina und Bonita langsam unter ihre Decken kriechen.
Sobald die Mädchen ganz still liegen, bellt Schwester Lucia, dass es nun Zeit zum Aufstehen sei. »Und damit meine ich
alle
!«
Als ich auf dem Weg ins Badezimmer an Gabby vorbeigehe, zuckt sie zusammen.
La Gorda stellt sich vor den Spiegel und betrachtet die Verfärbung ihrer Haut. Als sie mein Spiegelbild entdeckt, dreht sie sofort den Wasserhahn auf und ist bemüht, sich aufs Händewaschen zu konzentrieren. Ich könnte mich durchaus daran gewöhnen. Ich möchte wirklich niemanden einschüchtern, aber mir gefällt der Gedanke, von nun an nicht weiter behelligt zu werden.
Ella kommt aus einer der Toilettenkabinen und wartet vor dem Waschbecken, bis sie an der Reihe ist. Ich befürchte, dass sie wegen der Geschehnisse in der Kirche Angst vor mir hat. Doch sobald sie mich entdeckt, streckt sie mit einer dramatischen Geste die rechte Hand über den Kopf. Ich beuge mich zu ihr hinunter und flüstere: »Alles wieder in Ordnung?«
»Dank dir«, erwidert sie laut.
Im Spiegel fange ich La Gordas Blick auf. »Hey«, flüstere ich weiter, »was gestern Abend passiert ist, bleibt unser Geheimnis, okay? Erzähl es niemandem.«
Sie legt einen Finger an ihre geschlossenen Lippen. Ich bin ein wenig beruhigt, aber irgendetwas an La Gordas Blick stört mich gewaltig. Unsere Auseinandersetzung ist anscheinend noch nicht vorbei.
Ich bin so damit beschäftigt, was sich vielleicht in dem Kasten befindet, dass ich auf meine morgendliche Internetrecherche über John und Henri Smith verzichte. Ich habe nicht die Geduld, bis zur Morgenmesse zu warten, um Adelina zu treffen. Deshalb laufe ich durch alle Zimmer, um sie zu suchen. Aber sie ist nirgendwo zu finden. Die erste Glocke läutet zur Morgenmesse.
Ich lasse mich neben Ella in eine der letzten Bankreihen fallen. Adelina sitzt in der ersten Reihe. Irgendwann nach derHälfte des Gottesdiensts sieht sie über ihre Schulter und entdeckt mich. Ich erwidere ihren Blick und zeige auf den Alkoven, wo sie den Kasten so viele Jahre versteckt gehalten hat. Ihre Augenbrauen schnellen in die Höhe.
»Ich habe nicht verstanden, was du mir sagen wolltest«, sagt Adelina nach der Messe. Wir stehen unter einem bunten Glasfenster, das den Heiligen Josef darstellt, und werden von gedeckten Gelb-, Braun- und Rottönen überflutet. Adelinas Blick passt zur Ernsthaftigkeit ihrer Haltung.
»Ich habe den Kasten gefunden.«
»Wo?«
Ich deute mit dem Kopf nach rechts.
»Es ist meine Aufgabe zu entscheiden, wann du bereit bist. Und du bist
nicht
bereit. Nicht einmal annähernd«, sagt sie wütend.
Ich strecke meine Schultern und hebe den Kopf. »In deinen Augen wäre ich niemals bereit, weil du aufgehört hast zu glauben,
Emmalina
.«
Die Erwähnung ihres Namens trifft sie völlig unvorbereitet. Sie öffnet den Mund, schließt ihn aber gleich wieder, noch bevor eine wie auch
Weitere Kostenlose Bücher